BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Intensivstation»
von Albertine Devilder
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Licht. Licht. Die Decke des kleinen Raumes verletzt mich mit Licht. «So hell!», rufe ich und schließe meine Augen. Dann spüre ich durch die geschlossenen Augenlider, wie die Lampen unter der Zimmerdecke gedämpft werden. Jemand sagt: «Besser so? Und jetzt nehmen Sie bitte das hier.» Ich öffne die Augen und schaue in ein Gesicht mit einem Sechs-Tage-Bart und großen, müden, braunen Augen, umkränzt von einem wirren Haarschopf. Der ‹Sechs-Tage-Bart› hält mir zwei kleine Plastikbecher vor die Nase, einen roten und einen grünen. «Was ist das?», frage ich. «Das sind starke Schmerzmittel. Bitte nehmen Sie sie.» Mit der linken Hand nehme ich erst den roten, dann den grünen Becher - und trinke. «Sie sollten jetzt versuchen zu schlafen», sagt der ‹Sechs-Tage-Bart›, «ich werde das Licht ausmachen.» «Oh, bitte nein», sage ich, «lassen Sie doch bitte irgendwo eine Lampe an!» Der ‹Sechs-Tage-Bart› regelt das Licht neu und es entsteht eine wunderschöne, warme, milde Dämmerung. «Ich werde die Tür schließen, dann können Sie besser schlafen», sagt der ‹Sechs-Tage-Bart›. «Oh, bitte nein», höre ich mich betteln, «bitte machen Sie die Tür nicht ganz zu. Lassen Sie sie einen Spalt auf.» Schweigend erfüllt er meinen Wunsch und verläßt den Raum.

Mein Raum. Ein kleiner Raum, es paßt gerade mein Bett hinein, links sehe ich ein paar kleine Schränke und ein Spülbecken, rechts eine dunkle Wand, hinter mir ahne ich eine Fülle von Apparaten, denn wenn ich meinen Kopf drehe und verrenke, sehe ich über und hinter mir zwei Monitore, auf denen allerlei Kurven und Zahlen angezeigt werden. Meine Zahlen. Die Zahlen meines Körpers. Mitten auf der gegenüberliegenden Wand ist eine große Bahnhofsuhr. Es ist 12 Uhr 10. Kurz nach Mitternacht. Um 12 Uhr 15 preßt irgendetwas meinen rechten Oberarm zusammen, um dann wieder zu erschlaffen. Ich döse vor mich hin, habe optische Halluzinationen. Orangefarbige Schlangen mäandern vor meinen Augen, um sich dann in den Schwanz zu beißen. Endlos geflochtene Schlangenbänder. Wieder preßt etwas meinen rechten Oberarm zusammen. Ich öffne die Augen, die Bahnhofsuhr zeigt 12 Uhr 30. ‹Ok›, denke ich, ‹dann eben alle fünfzehn Minuten. Rund um die Uhr›.

Gegen 1 Uhr lassen die Halluzinationen nach. Ich versuche, mich ‹zusammen zu reißen›. «Hey, Albertine», sage ich laut, «jetzt spiel doch mal die Wirklichkeitsprüferin, die Ethnologin, jetzt versuch doch mal herauszukriegen, was mit Deinem Körper los ist!» Ich höre mich und freue mich plötzlich, daß ich lebe - und beginne die Untersuchung. Mit dem rechten Fuß streife ich an meinem linken Bein entlang und entdecke, daß ich irgendeine Art Strumpf trage. Vorsichtig bewege ich das linke Bein unter der Bettdecke hervor. Ja, da ist so ein weißer, sehr enger Strumpf, von den Zehen bis zum Knie. Am rechten Bein auch. Hm. Dann taste ich mit der linken Hand von meinem Oberschenkel an aufwärts. Aus der Mitte meines Unterleibs führt ein Schlauch zu einem Plastikbehälter, der links an meinem Bett hängt. Auf meiner Brust kleben acht oder zehn Elektroden, die mit Kabeln verbunden sind. Diese Kabel münden in einen großen Stecker, der direkt neben meinem Kopf auf dem Kissen liegt. Auf dem oberen Teil meiner Brust klebt ein dicker, schwerer Verband, aus dem ein Plastikröhrchen herausragt, das in einen Behälter links am Bett führt. In der linken Seite meiner Brust, genau unter dem linken Oberarm, steckt ein Schlauch, der jeden Atemzug zu einem Messerstich werden läßt. Dieser Schlauch mündet - soweit ich das ertasten kann - in zwei Glasflaschen, die in einer Art Drahtkorb links an meinem Bett hängen. Eine davon muß mit Wasser gefüllt sein, denn es plätschert, blubbert und zischt ohne Unterlaß. In einer Vene auf der Oberfläche meiner rechten Hand steckt ein kleines Gerät, aus dem zwei Schläuche nach oben zu zwei Plastikbehältern führen, die an einer Art Galgen hängen. Auf den Mittelfinger meiner rechten Hand ist eine rot leuchtende Applikation geklemmt, die mit einem Kabel zu den Monitoren über mir führt. Ach ja, und in meiner Nase steckt ein winziger durchsichtiger Schlauch, der mir milde, aber stetig etwas in die Nase bläst. War es das? Ja. Weiß ich nach dieser ‹objektiven Analyse› jetzt mehr? Nein. Ich weiß nur, daß ich in einem überwachten Körper lebe.

Während ich so vielfältig überwacht werde, flackern plötzlich auf den Monitoren über mir große rote Quadrate auf. Schon ist der ‹Sechs-Tage-Bart› in meinem Zimmer, an meinem Bett, und tippt auf den Monitoren herum. Dann deckt er mich vorsichtig auf, überprüft die vielen Elektroden an meiner Brust, brummelt ein wenig, und geht wieder. Ich blicke ihm nach, und sehe, daß da draußen, genau in meinem Blickfeld, so eine Art Zentrale ist, mit großen Bildschirmen und einem Schreibtisch, an dem eine Frau sitzt. Ja, und jetzt erst fällt es mir auf, wie laut es da draußen ist. Ununterbrochen klingelt und piept und summt es in der Zentrale, und bei jedem neu auftretenden Ton oder Klingelzeichen steht jemand auf und geht in eines der Zimmer, um dort nach dem Rechten zu sehen. Wie viele Zimmer mag es geben? Wie viele überwachte Körper? Und wie viele Leute arbeiten hier in dieser Nacht? Ich weiß es nicht.

Ich weiß aber noch genau, wie es in meinen Ohren immer lauter wurde, wie ich keine Luft mehr bekam, wie mein Herz nicht mehr weiter schlagen wollte, wie mitten in eine schlimme Bedrängung und Atemlosigkeit hinein ein Frauen-Gesicht vor mir auftauchte und sagte «Ich gebe Ihnen jetzt Atropin!» und ich antwortete «Ja, bitte!» Und die Frau sagte beiseite «Jetzt sagt die auch noch ‹Ja bitte!›». Und dann, ich konnte die Frau immer besser erkennen, sie hatte schwarze Haare, ein schmales, junges Gesicht, sagte sie zu mir: «Ich tu mal so, als hätten Sie einen Herzinfarkt und gebe Ihnen Aspirin und Heparin.» Ich sagte: «Ich habe keinen Herzinfarkt.» Und die Frau sprach wieder beiseite, ja, jetzt erst sah ich, daß da noch zwei Männer in grellen Anzügen an meinem Bett standen: «Solange die spricht, stirbt die hier nicht.» Und sie lachte. Alle lachten. Ich auch. Ich war auf seltsame Weise getröstet.

Hat mich die Erkundung meines Körpers getröstet? Nein. Ich blicke auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Es ist 1 Uhr 30. Mein rechter Oberarm wird wieder zusammen gepreßt. Ich frage mich, wie ich diese Nacht hinter mich bringen soll. Ich frage mich, wie es mit mir weiter gehen soll. Ich frage mich, ob ich meinem Körper je wieder werde vertrauen können. Ich frage mich, ob ich noch einmal auf dem Baksidevassberget sitzen und hinunter auf Smuksjøsæter schauen werde. Für einen Moment läßt mich meine Gelassenheit und Contenance völlig im Stich. Ich weine hemmungslos.

...

Um 7 Uhr kommt ein Pfleger mit einem dunklen Vollbart in mein Zimmer und fragt mich, ob er die Fenster öffnen solle. Fenster? Ich habe keine gesehen. Schon zieht er an der rechten dunklen Wand einen Vorhang beiseite und drückt auf irgendwelche Knöpfe. Ein Rolladen bewegt sich sacht nach oben - und nach und nach entdecke ich einen Strauch mit roten Beeren, einen kleinen Baum mit gelblichen Blättern, einen etwas größeren Baum noch ganz in Grün, einen von Häusern umstandenen Innenhof, ja, und dann sehe ich ein kleines Stück eines hellblauen Himmels. Licht. Licht. Licht.



Erstellt: 1. Oktober 2007 - letzte Überarbeitung: 2. Oktober 2007
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