BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Über das Besiegte»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2013)
von Albertine Devilder
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«Wenn die Unterklasse [...] wüßte,
was die Gesellschaft ist und was die Oberklasse ist.
Die Unteren ahnen es manchmal,
wenn sie aus ihrem Schlummer geweckt werden,
doch dann starren sie sich wieder blind am wirtschaftlichen Vorteil
und vergessen,
daß es anderen Druck von oben gibt,
der die Unteren in unsichtbaren Ketten hält.»
(August Strindberg) [1] August Strindberg (1921): Ein drittes Blaubuch. Nebst dem nachgelassenen Blaubuch. Übertragen von Emil Schering. München: Georg Müller. Seite 1269.

Nach 16 Jahren ‹geistig-moralischer Wende› von und mit dem schon wieder vergessenen ewigen Kanzler Helmut Kohl, nach Jahren der Erfindung von Harzt IV zur Degradierung Arbeitsloser, nach Krisen im internationalen ‹Finanzkapitalismus›, die für Banken und Banker immer gut ausgegangen sind, kurz, nach Jahren, in denen sich der finale Kapitalismus ungebremst, zynisch und ‹alternativlos› entwickeln konnte und durfte, haben heute fast alle jungen Menschen keine Vorstellung davon, daß es auch andere Wirtschaftssysteme geben könnte, und ihre oft ganz entschiedenen Aversionen gegen das, was sie Sozialismus und Marxismus nennen würden, und von dem sie – naturgemäß – nichts wissen oder verstehen, werden täglich von dem System ergebenen Journalisten genährt. Die jungen Leute der Spätmoderne wissen nichts mehr davon, wie der ewige Kanzler Helmut Kohl den ‹kommunistisch-sozialistischen Flächenbrand› irgendwo im Kaukasus ganz persönlich mit seiner Strickjacke gelöscht und damit die ‹kommunistische Menschenverachtung› endgültig besiegt hat. Nein, aber sie sehen das Ergebnis. Denn heute kann keiner mehr – zumindest nicht, ohne große Erheiterung zu erzeugen – spätmodernen Jungs erzählen, ihr Erleben und Verhalten sei schlicht aus einer spezifischen Klassenlage, aus einem spezifischen Sozialsystem heraus hinreichend definier- und erklärbar. Klassen? Wo denn? Heute weiß doch schließlich jeder, daß er ‹für sich ganz persönlich eben eine ganz persönliche Individualität› hat. Das ist schön. Deswegen folgen jetzt auch ein paar notwendige Gedanken über das Besiegte, und warum es besiegt werden mußte.

Im Marxismus werden Menschen als gesellschaftliche Wesen aufgefaßt, deren ‹Persönlichkeit› prinzipiell gesellschaftlich determiniert ist. Das Individuelle ist hier das Sozialisierte, das Gesellschaftliche, das Allgemeine. Dieses Prinzip ergibt sich aus den Theorien des historischen und dialektischen Materialismus, nach dem sich Gesellschaften, insbesondere die kapitalistische, in einer bestimmten, vorherzusehenden Weise entwickeln. Gesellschaftliche Umgebung, soziale Klasse, soziales System und die jeweilige ökonomische Basis bestimmen also das Verhalten und das Bewußtsein von einzelnen Menschen. Das Sein bestimmt das Bewußtsein! Und das Bewußtsein – als bewußt gewordenes gesellschaftliches Sein – bestimmt das Sein! Verhalten und Bewußtsein ergeben sich aus der Verinnerlichung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse: ‹Sage mir, aus welcher sozialen Schicht, aus welchem kommunalen System, aus welchem Milieu Du kommst, und ich sage Dir, was Du denkst, fühlst und tust!› Ist da was dran? Lieber Leser, liebe Leserin, vielleicht ist es vielen von Ihnen peinlich, da Sie doch so undogmatisch, so liberal sind, aber, wir müssen ja sagen!

In der marxistischen Anthropologie wird nun niemals von ‹Verhalten› gesprochen. Menschen verhalten sich nicht einfach, nein, Marx sieht ein besonderes Merkmal des Menschseins darin, daß Menschen arbeiten, daß sie tätig sind. Schauen wir uns diesen Tätigkeitsaspekt näher an: Der Mensch lebt nach Marx im Idealfall (also im Kommunismus) mit anderen Menschen in sozialen Gemeinschaften zusammen und stellt dabei sein eigenes Wesen und das seiner sozialen Gemeinschaft in freier und bewußter Tätigkeit her. Menschen entäußern nun ihr Wesen, d.h. zeigen ihr Wesen in ihrer Arbeit, sie vergegenständlichen ihr Wesen im Produkt ihrer Arbeit, sie schauen sich selbst im Produkt ihrer Arbeit ins Gesicht.

Leider können im Kapitalismus nun – so sagt Marx – die meisten Menschen in ihren Arbeitsprodukten und in ihren Arbeitsformen ihr Wesen, ihr Menschsein nicht wiederfinden. Denn im Kapitalismus besteht nach Marx eine vierfache Entfremdung:
  1. die Entfremdung des Arbeiters von seinem Produkt,
  2. die Entfremdung des Arbeiters von seiner Arbeit selbst, die zur Fron, zur Zwangsarbeit wird, die er nur ausübt, um zu überleben, und
  3. die Entfremdung des Arbeiters von seiner menschlichen Natur, von seinen eigentlichen Möglichkeiten als Mensch, von seinem Bewußtsein, weil hergestelltes Produkt und Arbeitsform nicht menschengemäß sind, und
  4. die Entfremdung des Arbeiters von den anderen Menschen.
Lieber Leser, liebe Leserin, sie können jetzt ruhig eine Lesepause einlegen und mal eben die vier oben beschriebenen Entfremdungsaspekte an Hand Ihrer beruflichen Tätigkeit deklinieren. Wie? Das wollen Sie nicht? Auch gut. Dann lesen Sie aber bitte wenigstens Helmut Hansens Essay ‹Vom Globalen im Lokalen›.

Doch weiter: Da jeder einzelne seine Arbeitskraft an das Kapital verkaufen muß, entsteht eine Vereinzelung des Arbeiters, entwickelt sich seine Loslösung von solidarischen, auf Gegenseitigkeit beruhenden sozialen Gemeinschaften! Der Arbeiter wird im Kapitalismus zum unsolidarischen, flexiblen, jederzeit einsetzbaren Einzelkämpfer, der sehen muß, wo er bleibt, und der auf andere nun wirklich keine Rücksicht nehmen kann! Denn wer zu spät kommt, den bestraft das Leben! Und nur ganz nebenbei: Wenn jeder Arbeiter sich einzeln verkaufen muß, bleiben die Löhne niedriger, da man die Arbeiter gegeneinander ausspielen kann! Ist das nicht schön? Nein.

Und noch etwas: Im finalen Kapitalismus wird allen Arbeitenden erzählt, daß sich der Sinn der Arbeit für den Arbeitenden nur aus der Bezahlung ergebe. Eine Tätigkeit sei also dann sinnvoll und dem Wesen des Menschen gemäß, wenn sie bezahlt werde. Daraus lernen die Arbeitenden im Kapitalismus, daß sie immer nur danach streben sollten, (mehr) Geld für ihre Arbeit zu bekommen, und nicht danach, eine sinnvollere Tätigkeit auszuüben!

Im Marxismus ist also der Gedanke bedeutsam, daß Menschen ihr ganzes Leben lang sich nicht nur einfach so oder so verhalten, sondern durch ihrer Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, und daß die Art und Weise, wie ‹sie persönlich› ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, daß die Art und Weise, wie das ‹Geld-verdienen-müssen› überhaupt in einer Gesellschaft geregelt ist, Auswirkungen auf ihre Persönlichkeit hat, ja daß Arbeitsbedingungen und Arbeitsprodukte und daß natürlich auch das ‹keine Arbeit haben›, das ‹Arbeitslos-Sein› die Persönlichkeit von Menschen prägt. Ist dieser Gedanke vom unbedingten Wert der Tätigkeit für den Menschen plausibel? Aber klar! Natürlich ist es nicht nur ganz wichtig, daß wir Arbeit haben, sondern auch welche Arbeit wir haben, womit wir tätig sind: ‹Sage mir, womit Du das Geld für Deinen Lebensunterhalt verdienst, und ich sage Dir, wer Du bist!› Ist da was dran? Oh ja!

Welche Vorteile hat es, wie im Marxismus, die Persönlichkeit von Menschen über den Sinn ihrer Tätigkeit zu definieren? Es öffnet uns den Blick! Der Marxismus widerspricht dem ‹gesunden› Menschenverstand, in dem er sagt: Wir sind so ohne weiteres keine freien Menschen, keine einzelnen, bürgerlichen Individuen, die machen und kaufen können, was sie wollen, die völlig losgelöst über der Welt schweben. Sondern wir sind ganz erheblich eingebunden in gesellschaftliche, kulturelle und politische Definitionen davon, wie wir uns unseren Lebensunterhalt ‹verdienen› (müssen)! Und wir können den gerade jetzt akut werdenden entscheidenden und tödlichen Denkfehler des finalen Kapitalismus sofort verstehen: Menschen als Kostenfaktoren anzusehen. Wenn Menschen Kostenfaktoren sind, kann das Endziel nur sein, ohne diese Kosten auszukommen, Arbeiter also einzusparen, sie freizusetzen, sie abzuschmelzen und eine schlanke Produktion ohne Arbeiter anzustreben. Oder besser noch, die allfälligen Lohnkosten vom Staat übernehmen zu lassen, wie es bereits millionenfach geschieht. Ahnen Sie das grandiose Scheitern des modernen Kapitalismus?

Und das bedenkenswerte Ziel des Marxismus wäre: Nicht nur Arbeit für alle zu schaffen, sondern möglichst auch alle Menschen mit (nicht nur ökologisch) sinnvollen Tätigkeiten zu beschäftigen. Wenn Menschen sich in ihrer Tätigkeit als Menschen erkennen, wenn sie sich in ihrer Arbeit als Menschen spiegeln können, wenn sie sich ins Gesicht sehen können, bei dem, was sie tun, ist das ‹kommunistische Menschenverachtung›?

Also, lieber Leser und liebe Leserin, Hand aufs Herz und die folgende Frage ehrlich beantwortet: Wie viel Prozent unseres täglichen Verhaltens sind völlig aus der Zugehörigkeit zu unserem speziellen kommunalen und kulturellen System (oder aus der Zugehörigkeit zu mehreren Systemen) zu erklären? 60, 70, 80, oder gar 90%? Was sagen Sie? Soviel? Ja, Herrgottnochmal, sind Sie denn plötzlich zum Marxisten geworden? Wie bitte? Ach so, Sie können sich jetzt vorstellen, warum ‹der Marxismus› bei uns so unbeliebt ist, und warum er ‹besiegt› werden mußte. Das ist ein Anfang.



Ins Netz gestellt am 12. Juni 2013
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