BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Produktives Spiel: Alternativen im Postfordismus?»
von Bethchen B. & Edna Lemgo
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Hintergrund

In seinem Traktat «Ich verlasse mich da ganz auf Sie!» bezeichnet Benjamin Erhard sehr klug und nachvollziehbar die Verlagerung von Verantwortung aus der betrieblichen Hierarchie in die isolierte Mitarbeiterin als Herrschaftsinstrument. Er hat uns angeregt, seine Perspektive ein wenig zu erweitern. Ursprünglich als Leserinnenbrief angelegt, aber für dieses Format zu ausladend, wollen wir vorab empfehlen, seinen Essay zu lesen, und dann um Nachsicht mit dem etwas brüchigen Charakter unseres Textes bitten. Und wir möchten betonen, daß wir uns auf die Diskussion des einzigen kritikwürdigen Punktes konzentrieren, weil wir mit allen anderen Aussagen voll und ganz übereinstimmen.


Gefangen im Wirklichkeitsraum

Beginnen möchten wir mit einem Zitat von William Burroughs, der in seinem Buch ‹The Place of Dead Roads› in den Worten von Nietzsche sagt: «Men need play and danger. Civilization gives them work and safety» (S. 210). Diese elementare Einsicht wird in Erhards Analyse nicht berücksichtigt. Zumindest findet sich in seinem Text kein Hinweis darauf, daß es eigentlich zuallererst darum gehen müßte, das etablierte Konzept ‹Arbeit› und die darauf aufbauende Ausbeutung von Human- und anderen Ressourcen an sich in Frage zu stellen. Erhard nimmt offenbar die Notwendigkeit, sich in Lohnarbeit verdinglichen zu müssen, als gegeben. Zumindest ist ihm die Vorstellung von alternativen, nicht auf Zwangsarbeit und sozialdarwinistischer Ökonomie gründenden Gesellschaftsformen nicht nah genug, um jenseits des siechenden Abendlandes Horizonte zu sehen. Dies verdeutlicht einmal mehr, wie gut es dem, nennen wir es mangels besserer Begrifflichkeit, finalkapitalistischen System gelungen ist, über das ‹Grundrecht auf Arbeit› den aufgezwungenen Verkauf unserer Arbeitskraft zu einem Eckpfeiler unserer Lebenswelt zu machen. Und so verwundert es uns kaum, daß Erhard nicht über den Rand dieses durch die Sprache der Machthaber hergestellten Wirklichkeitsraums schaut. Dafür wollen wir zumindest eine Perspektive skizzieren, die ein solcher Blick eröffnen könnte.


Lii-nee'

Als Sprungbrett dient uns dabei der Zerowork-Ansatz des amerikanischen Anarchisten Bob Black, der unsere Arbeitsweisen in ihrer durch die Ökonomie vorgegebenen Form grundsätzlich ablehnt. [1] Die Darstellung im vorliegenden Text orientiert sich an den Zerowork-Essays in: Bob Black (1992): Friendly Fire. New York: Autonomedia. Völlig richtig stellt Black fest, daß die der Arbeit immanente Entfremdung den Menschen nimmt, was ihnen keine Entlohnung und keine neue Arbeitsweise zurückgeben kann: sich selbst. Black stellt der Lohnarbeit seine Idee eines produktiven Spiels gegenüber. Ausgehend von dem Postulat, daß menschliches Handeln grundsätzlich zielorientiert ist, bestimmt er den Unterschied zwischen Arbeit und Spiel in ihrem Zweck. Der Zweck des Spiels ist der Prozeß, der Zweck der Arbeit das Produkt. Die Teilnahme an einem Spiel, im Gegensatz zur Arbeit, ist freiwillig und intrinsisch befriedigend. Das Ziel des Spiels ist die Freude an seiner Ausführung. Dabei ist ein Spiel nicht notwendig ohne Konsequenz, also kann auch ein Spiel produktiv sein. Er schlägt vor, den einzig guten Aspekt der Arbeit, die Schaffung von Nutzwerten – nicht Mehrwerten! – mit allen Aspekten des Spiel zu verknüpfen.

Zur Illustration einer auf diesen Prinzipien funktionierenden Gesellschaft muß er, siehe unser Eingangszitat, notwendigerweise auf Gemeinschaften schauen, die noch nicht allzusehr von unserer Zivilisationsform verunstaltet sind. [2] Eine Zivilisationsform übrigens, die sich aus der mit der ursprünglichen Agrarkultur einhergehenden Sklavenarbeit entwickelt hat. Noch Fragen? So bauen z. B. die Kpelle in Libyen Reis an, eine ausgesprochen mühsame Angelegenheit, die sie allerdings auf eine Weise verrichten, die wir uns in unserem Wirklichkeitsaquarium kaum noch vorstellen können. Lii-nee', grob zu übersetzen als Freude, begleitet alle als Arbeit zu bezeichnenden Tätigkeiten der Kpelle. Arbeit wird in Gruppen verrichtet, begleitet von Musik, die den Takt der Bewegungen vorgibt. Zwischendurch legen die Frauen immer wieder ihre Arbeitsgeräte nieder, um ihre Gefährtinnen – nicht die Kolleginnen! – mit Tanz zu unterhalten und dabei ihre Muskeln zu entspannen. Am Ende des Tages sitzen die Arbeiterinnen zusammen, trinken Wein, singen und tanzen.


Die Sitzung tanzt

Was können wir aus diesem Beispiel über unseren Arbeitsalltag lernen? Vor allem wohl, daß wir wahrscheinlich nicht gerade artgerecht unser Brot verdienen. Daher ist Benjamin Erhards Kritik gerade an den neuen Arbeitsformen sowohl richtig wie notwendig, und ein Schritt in die richtige Richtung. Letztlich sind alle neuen Arbeitsformen nur psychologische Werkzeuge, um die Selbstausbeutung in den Köpfen der Mitarbeiterinnen zu verschrauben. Selbst der dumpfe deutsche Bürowitz hat es schon erkannt: Die Ausübung der Arbeit im eigenen Heim ist wie die Emigration von Albanien nach Äthiopien auf der Suche nach einem besseren Leben. Und Gleitzeit gibt der Mitarbeiterin die Freiheit, ihre Sechzig-Stunden-Woche nach Belieben einzuteilen. Leider zielen aber auch Erhards ‹Auswege› nur darauf, den meist widerwärtigen ‹sozialen Raum eines Projektteams› etwas erträglicher zu gestalten.

Wenn wir lebendige Alternativen zur toten Arbeit wollen, müssen wir einen Schritt weiter gehen und über den Rand unseres auf Zwang und Ausbeutung gebauten Wirklichkeitsraums blicken. Am liebsten würden wir hier abschließend natürlich dazu aufrufen, die Arbeit niederzulegen, um Kommunen zu gründen, in denen man sich gemeinsam daran erfreut, spielerisch Nutzwerte zu schaffen. Ganz so realitätsfremd sind wir natürlich nicht. Aber die Einfügung von selbsterfüllten produktiven Spielelementen in bestehende Arbeitsabläufe hat nicht nur das Potential, den Arbeitsalltag erträglicher zu gestalten. Die Integration feiner Dissonanzen mag sogar dazu in der Lage sein, unseren vordefinierten Wirklichkeitsraum zu transformieren und seine Koordinaten ein wenig zu unseren Gunsten zu verschieben. Wie das umzusetzen ist, wissen wir noch nicht. Vielleicht choreographieren wir die nächste Sitzung als Ballett? Wäre wohl nur zu empfehlen, wenn wir ohnehin den Job wechseln wollen. Einen Versuch wäre es aber allemal wert, denn ein gutes Leben braucht Spiel und Gefahr.



Kommentare:

25. September 2002

Liebe Bethchen, liebe Edna,
erlaubt mir einige Anmerkungen zu Eurem schönen Essay «Produktives Spiel – Alternativen im Postfordismus?», der gleichzeitig eine Replik als auch eine Ergänzung zu meinem Traktat «Da verlasse ich mich ganz auf Sie! – Verantwortung im Postfordismus» darstellt.
Ihr ruft dazu auf, das kapitalistische Prinzip der Mehrwertschöpfung, welches sich als Grundlage der Ausbeutung des Menschen und der Natur bedient, in Frage zu stellen und stellt diesem die libertäre Utopie des produktiven Spiels gegenüber. Anhand des Beispiels der Gemeinschaft der Kpelle und ihres Lii-nee' illustriert ihr treffend die Basis dieses gesellschaftlichen Gegenentwurfs: Die Freiwilligkeit und die von innen kommende Befriedigung, die Kennzeichen eines Spiels sind, in Verbindung mit der Schaffung von Nutzwerten!
Im letzten Abschnitt meines Textes, überschrieben mit «Auswege?», versuchte ich nun Wege aus dem Dilemma der täglichen Ausbeutung und Selbstausbeutung aufzuzeigen. Einen möglichen Weg sehe ich in der Sammlung, Entmythologisierung und Dekonstruktion typischer Sprachskripte, da ich Sprache für ein wichtiges – vielleicht das wichtigste – Herrschaftsinstrument in der «Gesellschaft des Spektakels» halte. Menschen, die gelernt haben, die kapitalistische Ordung als «natürlichen» Zustand zu begreifen und ihre Unterdrückung zu lieben, müssen heute nicht mehr durch einen kostspieligen Sicherheitsapparat in Schach gehalten werden, sie übernehmen diese Kontrolle gleich selbst. Oder mit anderen Worten: Will mensch den Unterbau der bestehenden Gesellschaftsordung in Frage stellen, muß mensch den Hebel beim Überbau ansetzen. Mein Ansatz war es also weniger, einen anzustrebenden Idealzustand zu beschreiben, als vielmehr der Versuch, die Möglichkeitsspielräume der abhängig Beschäftigten zu erweitern. Versteht meinen Text als Aufforderung, «den Menschen zu erklären, wieviel noch fehlt, bis sie dem Ideal eines selbstverantwortlichen und handlungsfähigen Menschen näher gekommen sind», wie Artus es in einer Mail an mich einmal formuliert hat.
Manchmal bedarf es nur eines kleinen Anstosses, um den Automatismus der Skriptamöben, die wir alle in mehr oder weniger starker Ausprägung sind, nachhaltig zu stören. Es ist eine Binsenwahrheit, daß Vorstellungen von einer anderen (hier: anarchistischen) Welt die meisten Menschen eher erschrecken, bzw. daß die damit zusammenhängenden Begriffe zu den mit den negativsten Bewertungen besetzten Sprachgespenstern zählen, und daß daher die meisten Menschen lieber in dem ihnen zugewiesenen Wirklichkeitsraum verharren. Ein Ausweg ist eben ein Weg nach draußen, an dessem Ende sich ein mögliches Ziel befindet. Deshalb setze ich auf die Sprengkraft der Kombination Sprachkritik und Erkenntnis über Macht als, ich wiederhole mich, Erweiterung der Möglichkeiten. Es geht mir also nicht darum, den, wie Ihr schreibt, «meist widerwärtigen ‹sozialen Raum eines Projektteams› etwas erträglicher zu gestalten», sondern den Beschäftigten eine Atempause, ein Innehalten im gegenseitigen Zerfleischen zu verschaffen. Das Ergebnis der vielfältigen Gedanken, die dadurch entwickelt werden könnten, wird, davon bin ich überzeugt, eine für viele Menschen erstrebenswerte Utopie sein, die der von Euch beschriebenen entspricht oder vielleicht sogar über diese hinausführt. Ich hoffe, ich konnte verdeutlichen, daß Eure Befürchtung, mir könnten «alternative Gesellschaftsformen, die nicht auf Zwangsarbeit und sozialdarwinistischer Ökonomie gründen, nicht nah genug stehen», sich als unbegründet erwiesen hat.
Übrigens: Zu einem der mächtigsten Sprachgespenster gehört sicherlich das Wort «ARBEIT». Das protestantische Arbeitsethos ist tief in der Alltagsrealität der Menschen verankert: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. (Lohn-) Arbeit ist hier ein Fetisch, der einzige Sinn und Zweck des Lebens. Und wer für die kapitalistische Verwertungslogik nicht mehr benötigt wird, an dem nagen selbstquälerische Zweifel ob seiner Daseinsberechtigung: «Die Arbeit als Beruf: als die Plackerei, wie die Vergangenheit sie einzig kennt, wurde sie kaum mehr in Frage gestellt. Sie wurde aus des Bürgers Zierde zur Sehnsucht der Erwerbslosen.» (Max Horkheimer, Autoritärer Staat, 1942).
Die Vorstellung von Lohnarbeit als der einzig möglichen Form der Wertschöpfung eint die Deutschen quer über alle ideologischen Grenzen hinweg. Plakatierte die SPD in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts: «Arbeit! Arbeit! Arbeit!», so fordern die Trachtenmarxisten von der PDS im Jahre 2002: «Arbeit soll das Land regieren». Und die CSU definiert: «Sozial ist, was Arbeit schafft», oder war es umgekehrt? Wächst hier vielleicht zusammen, was zusammen gehört? Im Wahlmonat März des Jahres 1933 hieß es beim Kampfbund Schwarz-Weiß-Rot noch: «Sozial ist, wer Arbeit schafft». Noch Fragen?
Liebe Bethchen, liebe Edna, sehr gefallen hat mir Euer Vorschlag der Integration feiner Dissonanzen in den Arbeitsalltag – Subversion par excellence! Die nächste Sitzung als Ballett zu choreographieren, warum nicht? Sprachkritik und Erkenntnis über Macht, verbunden mit surrealistischen Aktionen, könnte helfen, die Wände des uns vordefinierten Wirklichkeitsraumes nachhaltig zu durchlöchern, was meint Ihr? «Ein gutes Leben braucht Spiel und Gefahr», schreibt ihr. Bei den französischen Situationisten habe ich dazu ein passendes Zitat gefunden: «Die proletarischen Revolutionen werden Feten sein oder sie werden nicht sein, denn das von ihnen angekündigte Leben wird selbst unter dem Zeichen der Fete geschaffen werden. Das Spiel ist die letzte Rationalität dieser Fete, Leben ohne tote Zeit und Genuß ohne Hemmnisse sind seine einzig anerkannten Regeln» (Mustapha Khayati: Das Elend der Studierenden, 1966).
Viele herzliche Grüße
Benjamin



Erstellt: 22. September 2002 – letzte Überarbeitung: 25. September 2002
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