BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Wirklichkeitsraum, Möglichkeitsraum, Weltenraum»
von Artus P. Feldmann
Als PDF-Datei laden

Festvortrag anläßlich des 10 jährigen Bestehens der Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung; gehalten am 3.10.1996 in Bochum, erschienen in «soziale wirklichkeit», jenaer blätter für sozialpsychologie und angrenzende wissenschaften, heft 1/97, 1. jahrgang, Seite 48–54, Copyright 1997 by «soziale wirklichkeit»

Liebe, verehrte Freunde und Freundinnen der Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung! Wir feiern heute unser 10 jähriges Bestehen. Und das ist eigentlich unglaublich, wenn wir uns einmal vor Augen führen, welch' seltsame Menschen, welch' merkwürdiges Menschentum, ja welch' breit gefächerte Idiosynkrasie-Manifestationen sich zu allen Zeiten in unserer Gruppe gefunden haben und heute noch finden. Der vorige Beitrag der Kommune 80 legt ein beredtes Zeugnis dafür ab, was in unserer Arbeitsgruppe alles möglich war und ist. Einige von euch werden sich auch noch gut an den Physiker erinnern, der unsere Arbeitsgruppensitzungen immer mit einem Glöckchen am Handgelenk besuchte!

Wenn ich mich hier so umsehe, erblicke ich ausschließlich außergewöhnliche, informationell geschlossene, interaktiv nicht instruierbare Personen-Systeme; dennoch treffen wir uns seit 10 Jahren absolut regelmäßig, um uns strukturell zu koppeln und um vor allem endlich einmal auszusprechen, wie die Welt wirklich ist. 10 Jahre? Ja, das ist unglaublich, aber, es ist glaublich, es stimmt, es ist tatsächlich so, es ist wirklich so: Liebe Freunde und Freundinnen, die folgenden Aussagen sind evidenzbasiert: 1. Uns gibt es! 2. 10 Jahre fröhlichen geistigen Wirkens liegen hinter uns. Es ist vollbracht, und wir heben ab. Völlig losgelöst schweben wir über dem total-globalen Chaos, das die Moderne angerichtet hat, und schon erheben sich einige warnende, meist junge Stimmen und rufen: Aber wohin geraten wir, wenn wir abheben? Welche Regeln gelten denn da, bzw. dort, bzw. in diesem anderen Zustand? Wie finden wir uns zurecht, wenn wir den Boden unter den Füßen verloren haben? Das sind gute Fragen, und das sind berechtigte Fragen, auf die die Senioren und Seniorinnen in unserer Arbeitsgruppe naturgemäß eine Antwort haben.

Ich möchte in meinem kleinen Beitrag somit der Frage nachgehen, ob wir nach dem Abheben von der Erde, also im Zustand des Abgehoben-Habens und des Abgehoben-Seins, also während der psychonautischen Lokomotion durch Raum und Zeit, zu unserer geistigen Orientierung an dem bisherigem Denken über die Welt anknüpfen können, oder ob wir spezifische epistemologische Kalküle heranziehen müssen, die sich von denen, die auf dem Planeten Erde eine vermutete Bedeutung haben, bedeutsam unterscheiden. Müssen wir den Staub aller Erdenschwere abschütteln, wenn wir als Abgehobene, als kosmische Wanderer den Raum aller Räume betreten und fremde und entfernte Galaxien des Geistes besuchen?

An zwei kleinen Beispielen möchte ich klarmachen, was uns alles erwartet, wenn wir erst einmal abgehoben haben. Nehmen wir als Einstieg das aus dem allgemeinen politischen Tagesgewäsch bekannte Sprachskript des «Tellerrandes». In der Politik der Übergangszeit zwischen Moderne und Postmoderne ist die Sprachfigur «Wir blicken kraftvoll über den Tellerrand der Geschichte und machen unsere Hausaufgaben» durchaus sinnvoll und beifallsträchtig. Die Begriffe «Geschichte» und «Hausaufgaben» lass ich jetzt mal weg, dafür bräucht' ich zu lange, schauen wir nur kurz auf den «Tellerrand».

Dem Sprachbild vom «Tellerrand» sind in unserer derzeitigen Kultur unseres kleinen Landes auf dem kleinen Planeten Erde nun Konnotationen angeheftet, die als die «Begrenzung von Etwas» gesehen werden können. Und gibt es eine Grenze, können wir auch über diese hinaussehen, hinausdenken oder hinausgehen. Es ist nun auch für Psychonautik-AnfängerInnen, also für diejenigen, die zum ersten Mal abgehoben haben, unmittelbar evident, daß nach dem Abheben von der Erde das Sprachbild und Erkenntniswerkzeug des «Tellerrandes» unbrauchbar wird, da zum einen in der speziellen Psychonautik keine Teller verwendet werden, sondern Tuben, und da zum anderen, angesichts der Größe des Universums, schlecht von «Rändern» gesprochen werden kann. Am ehesten noch würde sich hier das aus der speziellen Psychonautik bekannte Bild der «Bruchkante» von Tuben aufdrängen und natürlich führt das Bild der «Bruchkante» zu völlig anderen Suchfeldern und Topoi als das Bild des «Tellerrandes»! Denken wir hier nur an das aus der allgemeinen Psychonautik bekannte Problem der «Brüche» innerhalb einer Zeitreise.

Schnell noch ein zweites Beispiel, welches auf der Erde im großen Zeitalter der Moderne mal eine große Rolle spielte: das Sprachbild «Erziehung». Erziehung kommt von Erziehen, Erziehen kommt von ziehen. Ein Mensch, an dem bisher noch nicht gezogen wurde, der bisher also noch gleichsam ungezogen einherging, wird von Befugten so lange hin und her gezogen, bis er erzogen ist. Erziehung macht demnach aus Ungezogenen Erzogene, die in diesem Zustand meist auch noch passend angezogen sind. Blicken wir auf unser Thema, den Zustand des Abgehohen-Seins: Wieder ist unmittelbar evident, daß das Sprachbild «Erziehung» in der Psychonautik keine Rolle spielen kann, da das Hin-und-Her-Ziehen von noch Ungezogenen im Zustand der Schwerelosigkeit zu beachtlichen Verletzungen führen kann.

Doch genug der Beispiele! Beginnen wir mit der Prüfung dreier Modelle, die die epistemologische Grundlage für den Zustand des Abgehoben-Habens und damit für die allgemeine Psychonautik bilden könnten.

1. Die Welt als Wirklichkeitsraum

Die derzeitigen Zustände auf unserem Planeten Erde werden in Alltag und Wissenschaft der Moderne gemeinhin als Wirklichkeitsraum aufgefaßt. Unabhängig davon, daß diese Zustände von scheuen Augen eher als Wirrnis und von empfindsamen Ohren eher als Kakophonie empfunden werden, sollen in dieser Welt als Wirklichkeitsraum nun alle möglichen Fakten existieren, und diese Fakten sollen von Naturgesetzen zusammengehalten werden. Das Wissen über diesen Wirklichkeitsraum soll natürlich die Wissenschaft schaffen, die als eine Art Wirklichkeitspolizei befugt ist, Wirklichkeiten aufzuspüren. Manchmal muß die Wirklichkeit natürlich auch ent-larvt werden, muß ihr die Maske heruntergerissen werden. Und manchmal, wenn die Wirklichkeit es vorzieht, nicht freiwillig auszusagen sondern nachhaltig zu schweigen, ja, dann muß sie auch schon mal ein bißchen gepiekst und gefoltert werden. Aber das macht man dann meist mit Tieren, weil wir ja schließlich alle Menschen sind.

Auf jeden Fall gilt, daß die soeben entdeckte und entlarvte Wirklichkeit unbedingt sofort festzuhalten und zu verhaften ist, also dingfest, also zu einem festen Ding gemacht werden muß. Sofort danach werden vielfältige Protokolle und Berichte über das demaskierte Antlitz der Wirklichkeit geschrieben und veröffentlicht, damit alle anderen Menschen ebenfalls erfahren, wie die Wirklichkeit aussieht.

Wie schafft die moderne Wissenschaft nun das Wissen über das Antlitz der Wirklichkeit? Und wieso glauben fast alle Menschen in der Moderne, daß die Wissenschaft eben dieses Wissen schafft? Na ja, man/frau munkelt, daß die optimale allgemein-lineare Verhörmethoden haben und daß sie nur zweiwertige Antworten zulassen, ja oder nein, richtig oder falsch. Das vereinfacht die Angelegenheit.

Das ist, in aller Kürze, die Welt als Wirklichkeitsraum. Was sollen wir nun mit diesem Modell anfangen, wenn wir abgehoben haben? Ich könnte es mir leicht machen und ganz polemisch darauf verweisen, daß dieses Modell für uns nicht in Frage kommt, weil es einige von uns so wütend gemacht hat, daß wir deswegen vor 10 Jahren die Bochumer Arbeitsgruppe gegründet haben. Ich könnte auch sagen, daß dieser Erkenntnisweg auf der Erde ja sowas von gescheitert ist, daß wohl niemand auf den Gedanken käme, eben dieses Modell für die Lösung all der Probleme heranzuziehen, die sich nach dem Abheben von der Erde ergeben. Ich könnte auch literarisch werden und Hermann Hesse zitieren: «Von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr!»

All' das könnte ich. Aber ich will fair sein! Dies ist ein seriöser Vortrag und ich möchte die Bochumer Arbeitsgruppe, die jemand wie mich als Festredner reden läßt, nicht vor den vielen aus aller Welt herbeigeeilten Gästen blamieren. Also werde ich noch ein wenig mehr dazu sagen, warum das Modell von der Welt als Wirklichkeitsraum in der Psychonautik völlig ungeeignet ist.

Obacht: Das liegt am Raumbegriff. Der Wirklichkeitsraum der traditionellen modernen männlichen weißen westlichen Welt ist nämlich euklidisch. In der euklidischen Geometrie besteht der uns umgebende Raum, der Wirklichkeitsraum, aus Punkten und Geraden. Die Beziehung zwischen Punkten und Geraden wird natürlich durch Axiome geregelt. Ein wichtiges Axiom ist das Parallelenaxiom. Es besagt, daß es zu einer Geraden Klein-a und einem nicht auf ihr gelegenen Punkt Groß-A in der durch Klein-a und Groß-A bestimmten Ebene höchstens eine Gerade gibt, die durch Groß-A läuft und Klein-a nicht schneidet. Was will uns dieses für die euklidische Geometrie des Raumes so überaus wichtige Axiom sagen? Daß die Welt als Wirklichkeitsraum aus Punkten und Geraden besteht? Daß sich Regressionsgeraden durch Punkteschwärme ziehen lassen? Daß wir den uns umgebenden Raum vielleicht auch sehen, riechen, hören, schmecken, fühlen oder ahnen können? Es ist zum Abheben!

Wenn das Modell von der Welt als Wirklichkeitsraum weder auf der Erde noch nach dem Abheben von der Erde irgendeinen Sinn macht, was können wir mit der Vorstellung von der Welt als euklidischem Wirklichkeitsraum dann noch anfangen? Ich sags euch: Vor vielen Jahren konnte ich mich gegen eine sehr kluge, sehr beredte und ganz wunderbare Freundin nur behaupten, in dem ich ab und zu einwarf: «Alles, was Du da sagst, gilt doch nur im euklidischen Raum!» Das hat sie sehr beeindruckt, aber nicht lange, na, ja, eigentlich nur einmal. Aber ihr könnt es trotzdem ja mal versuchen! Da fällt mir noch eine Geschichte ein, von einem, der zwei Armband-Uhren hatte und die Frage: «Wieviel Uhr ist es?» regelmäßig beantwortete mit der Gegenfrage: «Im euklidischen oder im nicht-euklidischen Raum?»

Kommen wir zum 2. Modell: Die Welt als Möglichkeitsraum

Nachdem wir gesehen haben, daß das Modell von der Welt als Wirklichkeitsraum allenfalls dazu taugt, gleichsam mit Taschenspielertricks in Beziehungs-Diskursen gelegentlich als Mann auch mal zu gewinnen oder ein wenig Schabernack mit zwei Armbanduhren zu treiben, geht uns beim schieren Klingklang von «Die Welt als Möglichkeitsraum» das Herz auf. Vielleicht ist «Möglichkeitsraum» gar eines der Lieblingsworte der Bochumer Arbeitsgruppe. Ich weiß nicht, in wie vielen unserer berühmten blauen Arbeitspapiere wir das Wort Möglichkeitsraum ergriffen haben, um die geneigten Leser und Leserinnen in eine angenehme Trance zu versetzen. Otto Weininger sagte einmal: «Wir erwehren uns der Welt durch unsere Begriffe.» Wir in der Bochumer Arbeitsgruppe scheinen uns der schnöden Welt mit dem Begriff Möglichkeitsraum zu erwehren.

Also die Welt als Möglichkeitsraum. Wunderbar, denn schon sehr früh haben wir in der Arbeitsgruppe entdeckt, daß Wirklichkeitsräume schließen, scheiden und schaden, Möglichkeitsräume aber öffnen, einen und helfen. Natürlich ist das rein romantisch, aber wir haben ja auch einige ausgewachsene Romantiker und Romantikerinnen bei uns. Was sagt uns das Menschenbild der Romantik? Etwas ganz wunderbares: Wir haben als Universalgenies alle Möglichkeiten, uns nach unseren schier unbegrenzten Möglichkeiten zu entfalten, und wir haben unter allen Umständen immer alles dabei, was wir jemals brauchen, um unsere Möglichkeiten entwickeln zu können. Klingt das nicht wunderschön? Schauen wir da nicht einen kleinen Augenblick mit ruhigem Wohlwollen auf die Welt, empfinden wir da nicht einen Moment lang in uns einen tiefen, warmen, wohligen Frieden, fühlen wir uns da nicht eine Sekunde lang innigst verbunden mit der gesamten Schöpfung, werden wir da nicht ganz unvermittelt eins mit dem gesamten Universum, …, ja, … schon, doch leider muß ich diesen Vortrag jetzt fortsetzen.

Ich möchte im folgenden kurz die Entstehungsgeschichte des für uns so ausgesprochen wichtigen Begriffs des Möglichkeitsraumes skizzieren und insbesondere erzählen, wer ihn erfunden hat. Es war, ihr ahnt es schon, Robert Musil (1880–1942), neben Karl Kraus und Michel de Montaigne einer der wenigen Denker, bei denen die Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung immer dann geistige Zuflucht suchen und geistigen Halt finden kann, wenn sie sich epistemisch einsam fühlt und wenn Kälte und Dummheit, die zwei Werte der nach dem Parallelenaxiom geordneten Wirklichkeitswelt, sie zu überfrieren drohen.

Ihr wißt alle, daß Robert Musil Psychologie studiert hat. In den Jahren 1906/1907 war er an der Humboldt-Universität in Berlin. Dort hat er im experimentalpsychologischen Laboratorium unter der wohlwollenden fachlichen Aufsicht von Carl Stumpf (der übrigens Ordinarius für Philosophie und Psychologie war, das gibt es heute leider nicht mehr, das merkt man/und frau …) Also Robert Musil hat dort nun ein Gerät konstruiert, welches über viele Jahre hinweg in der experimentellen Psychologie eine wohlverdiente große Rolle spielte: Den Farbkreisel. Ein Farbkreisel besteht aus einer geschickten Anordnung runder Pappscheibensegmente aus verschiedenen Farben, meistens zwei, in veränderlichen, einstellbaren Anteilen. Die Scheibe hat insgesamt einen Durchmesser von etwa 25 Centimetern und kann mit Hilfe eines kleinen Motors schnell gedreht werden. Dabei verschmelzen die Farben zu einem synästhetischen neuen Farbeindruck.

Wie kam es nun zum Begriff Möglichkeitsraum? Das war so: Als einmal an einem späten Abend Robert Musil alleine im Labor saß und schon seit etwa über einer halben Stunde den sich mit hoher Geschwindigkeit drehenden Farbkreisel fixierte, entdeckte er das heute in der speziellen Psychonautik bekannte Phänomen der «von außen gelenkten Bewegung des Raumes». Musil faßte damals seine verblüffend präzisen Beobachtungen zusammen in einem heute leider verschollenen Fachbeitrag mit dem Titel: «Fixationsnachbilder als Möglichkeitsraum». So war dieser wichtige Begriff endlich geboren.

Im «Mann ohne Eigenschaften» hat Musil das Thema Wirklichkeit/Möglichkeit wunderbar variiert. Gleich zu Beginn, im 4. Kapitel, spricht Musil über den Wirklichkeitssinn und den Möglichkeitssinn: «Wer ihn (den Möglichkeitssinn, d.A.) besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen, als das, was nicht ist. Man sieht, daß die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkenswert sein können, und bedauerlicherweise lassen sie nicht selten das, was die Menschen bewundern, falsch erscheinen und das, was sie verbieten, als erlaubt oder wohl auch beides als gleichgültig.»

Liebe Freunde und Freundinnen, ihr seht, daß die von einem Möglichkeitssinn geschaffenen Möglichkeitsräume uns bereits wärmen und nähren? So ergeben sich aus der Betrachtung der Welt als Möglichkeitsraum zweifellos bedeutsame Ansätze für eine psychonautische Erkenntnistheorie. Dieser Ansatz hat, ohne Frage, viele Vorteile, ich möchte jedoch noch einen Schritt weitergehen und noch mehr Möglichkeiten herbeizaubern.

3. Die Welt als Weltenraum

Mit dieser überraschenden Formulierung möchte ich euch näher bringen, wie einfach die Lösung epistemologischer Probleme von Abgehobenen sein kann. Denn auf der Erde, ein entsprechendes Einkommen vorausgesetzt, wohnt man/frau in einem Wohnraum und schläft in einem Schlafraum. Was macht die Welt? Wohnt sie in einem Wirklichkeitsraum? Wohnt sie in einem Möglichkeitsraum? Nein, wo soll die Welt denn schon zu Hause sein, wenn nicht im Weltenraum? Eine geistige Orientierung für Abgehobene, eine psychonautische Erkenntnistheorie also, muß von den natürlichen Wahrheiten des Weltenraums ausgehen. Was sind die natürlichen Wahrheiten des Weltenraumes? Das wissen wir alle: Was können wir nun aus diesen natürlichen Wahrheiten des Weltenraumes für unsere Erkenntnisprozesse im Zustand des Abgehoben-Habens lernen? Ich denke, eine ganze Menge!

Beginnen wir mit der Krümmung des Weltenraumes: Das Denkmodell vom gekrümmten Raum zeigt uns in aller Deutlichkeit, daß wir Menschen uns dringend von der euklidischen Geometrie, dem Parallelenaxiom und der Linearität und einfachen Additivität all unseres wissenschaftlichen Herummachens verabschieden müssen. Denn im Weltenraum gilt die hyperbolische, die nicht-euklidische Geometrie. Und interessanterweise wird hier die Verneinung des Parallelenaxioms als Axiom verwendet. Kurz und gut, der kosmologische Krümmungsbegriff muß der Ausgangspunkt einer psychonautischen Epistemologie und Ontologie werden! Schon kommen wir zu unserem Nun zur Unendlichkeit des Weltenraumes: Daß der Weltenraum unendlich groß ist, ist für Menschen, die gewohnt sind, abgehackt, also in zwei Werten zu denken, kaum vorstellbar. Moderne Wissenschaftler (Wissenschaftlerinnen vermutlich weniger) versuchen deswegen derzeit die Krümmung des Weltenraumes mit Hilfe von Hintergrundstrahlungen zu messen. Läßt sich die Krümmung messen, so ihre Idee, kann der Weltenraum nur endlich groß sein. Dabei sollen ihre Messungen und Meßapparate selbstverständlich völlig unabhängig von ihnen selbst als Beobachtern sein. Na ja. Kybernetik 1. Ordnung. Ich denke, wir können beruhigt davon ausgehen, daß die die Krümmung des Weltenraumes niemals messen werden und daß uns die kosmische Wahrheit von der Unendlichkeit des Weltenraumes diskursiv noch lange erhalten bleibt.

Was können wir aber nun aus der Vorstellung von der Unendlichkeit des Weltenraumes für unsere Erkenntnisprozesse im Zustand des Abgehoben-Habens lernen? Nun daraus ergibt sich, daß Erkenntnis ein unendliches Unterfangen, ein endloses geflochtenes Band ist. Erkenntnis kann zum einen niemals beendet sein, und zum anderen können wir niemals wissen, wo genau auf diesem endlosen Erkenntnisband wir uns während einer Erkenntnisaktion gerade befinden. Natürlich können wir auch ganz grundsätzlich nie erfahren, ob wir jemals zum Ausgangspunkt unserer Erkenntnisreise zurückgekehrt sind, selbst wenn wir es tatsächlich wären. Denn wir selbst, als Erkennende, verändern uns während der Erkenntnisreisen so sehr, daß wir unseren Ausgangspunkt gar nicht mehr erkennen würden, hätten wir ihn denn wieder erreicht. Schon kommen wir zu unseren Axiomen 2 und 3: Nun zur Ausdehnung des Weltenraums: Nachdem die Status-Theorien, also Modelle eines stationären und unveränderlichen Universums, nicht nur in der Persönlichkeitspsychologie sondern auch in der Kosmologie aus der Mode gekommen sind, werden heute eher dynamische Modelle bevorzugt: Der Weltenraum ist nicht mehr einfach so da, liegt irgendwo tatenlos herum und wartet auf diskriminative Stimuli oder Triebpotential-Überläufe nach dem Modell des Toilettenkastens, sondern er ist verstrickt in dynamische Aktionen. Das ist noch leicht zu verstehen.

Aber der Gedanke, daß ein Raum nicht nur unendlich groß ist, sondern sich auch immer noch weiter ausdehnt, sich selbst also immer mehr Raum gibt, dieser Gedanke ist kaum denkbar. Aber wir sollten für unsere Erkenntnisprozesse im Zustand des Abgehoben-Habens etwas ganz Einfaches daraus lernen, welchem wir Einlaß gewähren sollten bis tief in unser Herz hinein. Ich will es vorsichtig ausdrücken, um die jüngeren Freunde und Freundinnen unserer Arbeitsgruppe zu schonen: Erkenntnis schafft mehr Probleme als sie löst. Schon kommen wir zum Das heißt: Aus jeder Antwort auf eine Frage ergeben sich mindestens 12 neue Fragen. Oder im Tennis-Talk: Für jeden Erkenntnis-Volley kriegen wir 12 Returns gleichzeitig um die Ohren geschmettert. Oder ganz aphoristisch: Eine Antwort zu geben wirft mehr Probleme auf als keine Frage zu stellen.

Kommen wir noch kurz zur vierten und letzten natürlichen Wahrheit des Weltenraumes: Zur Selbstorganisation. Ich glaube, daß ich es mir und euch ersparen kann, hier noch etwas über Autopoiese und Selbstorganisation zu erzählen. Was sich ausdehnt, muß sich auch selbst organisieren, keine Frage. Schauen wir uns deswegen nur schnell noch an, was wir aus dieser natürlichen Wahrheit des Weltenraumes für unsere Erkenntnisprozesse im Zustand des Abgehoben-Habens lernen können. Das heißt, daß Erkenntnis sich prinzipiell immer nur auf sich selbst bezieht. Anders ausgedrückt könnte das Axiom auch so lauten: Epistemologisch betrachtet genügt Erkenntnis sich selbst.

Ich komme zum Schluß. Ich habe in meinem kleinen Beitrag versucht, die Grundlinien einer psychonautischen Erkenntnistheorie für Abgehobene zu skizzieren. Dabei habe ich zunächst die Vorstellung von der Welt als Wirklichkeitsraum verworfen, habe dann mit der Vorstellung von der Welt als Möglichkeitsraum geliebäugelt, um daran anschließend zu zeigen, wie überraschend einfach die Lösung aller erkenntnistheoretischen Fragen für jeden Zustand ist, wenn wir nur von den natürlichen Wahrheiten des Weltenraums ausgehen. Diese natürlichen Wahrheiten habe ich, wie es sich einem wissenschaftlich interessierten Publikum gegenüber geziemt, in fünf epistemologische Axiome übersetzt.

Es ist bestimmt noch ein weiter Weg zurückzulegen, bis wir uns zu einer ausgearbeiteten psychonautischen Erkenntnistheorie vorwagen können, aber, ich denke, der Boden dazu ist mit dieser kleinen Skizze bereitet. Ich wünsche mir zwar, daß dieser Vortrag Ansporn und Verpflichtung zugleich sein möge, die sich uns stellenden Fragen unerschrocken anzugehen, aber bestimmt habt ihr alle gemerkt, daß ich auf die Probleme, die sich durch unser Abheben mit dem Phänomen der Zeit ergeben, nicht eingegangen bin. Ja, ich konnte euch nicht einmal den Unterschied zwischen der Zeit im euklidischen und im nicht-euklidischen Raum erklären. Dabei habe ich schon so oft vorgeschlagen, daß wir uns in der Arbeitsgruppe mal mit dem Phänomen der Zeit auseinandersetzen, aber, ihr wißt es ja alle, leider kann ich mich nie durchsetzen.

Liebe Freunde und Freundinnen der Bochumer Arbeitsgruppe für sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung: Vielleicht kann in 10 Jahren, zu unserem nächsten Jubelfest, eine Jüngere als ich die heute noch offenen Fragen und Probleme anhand einer klugen Wirklichkeitsprüfung beleuchten und mit den heute von mir vorgestellten Axiomen verbinden. Und ich würde mich sehr freuen, ja ich wäre sogar ein wenig stolz, wenn sie dann ihren wunderbaren Festvortrag schließen würde mit dem Satz:

Liebe Freunde und Freundinnen der Bochumer Arbeitsgruppe für sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung: Vielleicht kann in 10 Jahren, zu unserem nächsten Jubelfest, eine Jüngere als ich die heute noch offenen Fragen und Probleme anhand einer klugen Wirklichkeitsprüfung beleuchten und mit den heute von mir vorgestellten Axiomen verbinden. Und ich würde mich sehr freuen, ja ich wäre sogar ein wenig stolz, wenn sie dann ihren wunderbaren Festvortrag schließen würde mit dem Satz:

Liebe Freunde und Freundinnen der Bochumer Arbeitsgruppe für sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung: … Danke, daß ihr mir zugehört habt.



Erstellt: 1. September 2000 – letzte Überarbeitung: 1. September 2000
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.