BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Was ist Luxus?»
von Henriette Orheim
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Vor ein paar Tagen blätterte ich in der wunderbaren Neuausgabe von Diderots und d'Alemberts «Welt der Encyclopédie» [1] Die Welt der Encyclopédie. Ediert von Anette Selg und Rainer Wieland (2001). Die Andere Bibliothek. Herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt am Main: Eichborn Verlag. (Es handelt sich hier um eine Auswahl aus der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné de Sciences des Art et des Métiers von Denis Diderot und Jean le Rond d'Alembert, die von 1751–1772 in Paris erschienen ist. Zusätzlich haben 25 Autoren der Jetztzeit in 25 Essays «Ausblicke ins 21. Jahrhundert» gewagt.) und entdeckte zwei Artikel zum Stichwort ‹Luxus›: Einer von beiden wurde so um 1760 herum von Jean-François de Saint-Lambert geschrieben, und der andere heute – im Jahr 2001 – von Hans Magnus Enzensberger. Diese beiden Essays zu vergleichen, sie in Gedanken hin und her zu bewegen, sie zu begreifen und mit dem zu vereinen, was mir schon seit einiger Zeit zum Thema ‹Luxus› durch den Kopf geht, war mir eine große Freude. Ein wenig davon möchte ich weitergeben. Fangen wir an.

Ein wichtiges Bestimmungsstück des Begriffes Luxus ist ‹Exklusivität›. Luxusgüter sollen nicht für jeden erschwinglich sein, sollen also ungleichgewichtig – vielleicht auch ungerecht – verteilt sein. Luxusgüter soll sich nicht jeder leisten können. Das ist das Eine.

Und wenn wir uns die Verwendung des Wortes ‹Luxus› betrachten, bemerken wir sehr schnell, daß zum anderen heute die Konnotationshöfe von ‹Luxus› und ‹Verschwendung› sehr nahe beieinander gesehen werden: Luxus wird – wenn ich dem Thesaurus meines iMacs trauen darf – schnell und leicht zusammen gebracht mit einem Leben im Überfluß, also mit Verschwendung, Vergeudung, Schwelgerei, Völlerei, Schlemmerei und Prasserei; mit Maßlosigkeit und Unmäßigkeit, mit Exzessen also. Wer ‹im Luxus› lebt, tut dies ‹ausschweifend› und ‹auf großem Fuß›. Einer, der ‹im Luxus› lebt, ‹hält sein Geld nicht zusammen› und verhält sich ‹zucht- und zügellos›. Wie unvernünftig! Die klassische Visualisierung einer derartigen Verschwendung wäre also eine Szene mit luxuriös gekleideten Menschen im Restaurant eines Luxus-Hotels, in der nach einem Luxus-Menu der ‹sündhaft› teure Luxus-Champagner ‹in Strömen fließt›. Nur, ist das ein unerschwinglicher Luxus, oder – vulgär? Bevor wir darüber nachdenken, noch ein paar andere Beispiele:

  • Wir sitzen bei einem selbst gekochten Essen, trinken einen guten Wein dazu und entdecken urplötzlich eine ganz wunderbare Harmonie, einen Gleichklang zwischen der Sahnesoße des Gemüseauflaufs und den Tanninen des Rotweins. Ist das ein unerschwinglicher Luxus, oder – Hochgenuß?
  • Da geht ein Mann in eine Bar und trinkt drei Flaschen Bordeaux. Alleine. Ist das ein unerschwinglicher Luxus, oder – ein sinnloser Exzeß?
  • Wir sitzen während eines fürchterlichen Unwetters in einem kleinen Zelt an der norwegischen Westküste. Im Zelt ist es trocken, uns ist es – eingemuckelt in unseren Schlafsack – warm, auf dem winzigen Gaskocher köchelt klares Wasser. Und nun brühen wir einen Tee auf und verfeinern ihn mit einem kleinen Schuß aus der Cognacflasche, die wir wenige Tage vorher im Dutyfreeshop der Fähre erstanden haben. Es verbreitet sich ein feiner, zarter Geruch im Zelt. Draußen lärmt und tobt das Unwetter. Der Regen prasselt auf das Zelt. Draußen. Drinnen, wohlbehütet und warm, trinken wir einen Schluck heißen Tee mit Cognac. Wir spüren ihn bis in die Zehenspitzen. Ist das ein unerschwinglicher Luxus, oder – Wohlbehagen?
  • Und der stolze Besitzer eines Reiheneigenheims ist endlich aller Sorgen ledig, da er im Lotto fast eine Million Mark gewonnen hat. Aber er ändert nichts an seinem Leben, gar nichts, mit einer Ausnahme: Statt der zwei Liter Bier in Bierdosen von ALDI trinkt er von nun an zwei Liter Warsteiner. Jeden Abend. Ist das ein unerschwinglicher Luxus – oder lächerlich?
  • Wir sitzen an einem milden Sommerabend auf einem kleinen – vor sich hin dümpelnden – Segelboot vor der dänischen Küste, halten eine Hand in das überraschend warme Wasser der Ostsee und denken lange darüber nach, welches Leben eigentlich Quallen so führen. Ist das ein unerschwinglicher Luxus, oder – Meditation?
  • Und dann wollen wir es uns einmal besonders schön machen und fahren nach Baiersbronn. Dort gehen wir in die ‹Schwarzwaldstube› von Harald Wohlfahrt und essen das ‹Große Abendmenu›. Gut, wir haben schon mal in einem Restaurant zu Hause ein Überraschungsmenu für DM 50,– gegessen, ja einmal sogar ein Großes Fest-Menu in unserer Pizzeria für DM 80,– (!). Und das ganz unbeschreibliche Menu – denn «himmlisch» wäre untertrieben – an diesem wundervollen Abend bei Harald Wohlfahrt kostet DM 200,–. Pro Person, versteht sich. Ist das nun ein unerschwinglicher Luxus – oder einfach preiswert?

  • Ich hoffe, daß diese Beispiele eines zeigen: Wenn wir auf dieser Ebene bleiben, daß Luxus etwas mit dem Verbrauch oder der Benutzung von luxuriösen Gütern zu tun hat, und daß dieser Verbrauch nur wenigen Menschen vorbehalten ist, kommen wir im Nachdenken über das Wort ‹Luxus› nicht viel weiter. Denn es zeigt sich sehr schnell, daß das, was Luxus sein soll, kulturell und kontextuell, also sozial und lokal definiert wird und ohne den Bezug zu einer bestimmten Zeit, einer bestimmten Kultur-Epoche und einem bestimmten sozialen Raum nicht denkbar ist. Nur nebenbei: Das, was ‹Luxus› sein soll, ist somit natürlich auch ständigen Veränderungen und Neudefinitionen unterworfen.

    Ich möchte nun – angeregt durch den oben genannten Essay von Hans Magnus Enzensberger in der Neuausgabe von Diderots und d'Alemberts «Welt der Encyclopédie» – einen anderen Blick auf das Wort und das Phänomen ‹Luxus› werfen und auf eine andersartige ‹ungerechte› und ‹ungleiche› Verteilung von ‹Luxus-Gütern› verweisen. Heute stehen nämlich bestimmte «elementare Lebensnotwendigkeiten» (Hans Magnus Enzensberger) längst nicht allen Menschen zur Verfügung. Und genau diese «Lebensnotwendigkeiten» bilden in meinen Augen heute neue Güter des Luxus für die – wenigen – Glücklichen, die sie sich ‹ leisten› können. Welche Güter könnten das sein? [2] Die folgenden Punkte 1–5 habe ich von Hans Magnus Enzensberger übernommen und ausformuliert. Den sechsten Punkt habe ich ergänzt.


    1. Eigenzeit

    Über seine eigene Zeit, über seinen eigenen Tagesablauf verfügen zu dürfen, ist Luxus. Leider sehen das nur wenige Menschen so. Sie packen und stapeln sich ihren Terminkalender voll, hetzen herum und versuchen bei allem Streß auch noch überall weitere – ohnehin ‹knapp bemessene› – Zeit einzusparen. Diese eingesparte, dem Tagesablauf und den mannigfaltigen Verpflichtungen abgerungene Eigenzeit wird dann am Abend nicht nur nicht ‹genutzt›, sondern – totgeschlagen.


    2. Eigenraum

    Über eigene Räume zu verfügen, ist Luxus. Dabei denke ich nicht nur an einen eigenen Wohnraum in angemessener Größe, der zum ungestörten Rückzug einlädt, sondern auch an öffentliche Räume. Öffentliche Räume können so voller Menschen sein, daß das Bewußtsein vom ‹Eigenraum› verloren geht. Man muß nur einmal am späten Nachmittag die Haupteinkaufsstraße in Shanghai – etwa vom ‹Shanghai JC Mandarin Hotel› bis zum ‹Bund› – hinuntergehen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie ‹overcrowded› Straßen, Plätze und Kaufhäuser sein können, wie drängelig, wimmelig, wuselig – für uns – unvorstellbare Menschenmassen öffentliche Räume erfüllen können.

    Und als Kontrast dazu stellen wir uns vor, wie wir am späten Nachmittag vom Hotel Mundal aus die ‹Einkaufsstraße› in Fjærland hinuntergehen. Und wieder zurück. Wieviele Menschen werden wir auf diesem Weg sehen? Zwei? Drei? Und welches Bewußtsein vom Eigenraum im öffentlichen Raum werden wir haben?


    3. Ruhe

    In privaten oder öffentlichen Räumen leben zu dürfen, die voller Ruhe sind, ist Luxus. Wir kennen alle Wohnungen, an denen ein unaufhörlicher unüberhörbarer Strom von Kraftfahrzeugen vorbeifährt. Selbst in der Nacht. Und wir kennen alle private soziale Räume, in denen ununterbrochen Medienlärm zu hören ist. Manchmal denke ich, daß sehr viele Menschen Ruhe gar nicht ertragen können. Sie wollen vom Luxusgut ‹Ruhe› nichts wissen und setzen die ihnen zur Verfügung stehenden Standard-Medien als Selbstreferenzunterbrecher ein. Immer. Und sie sagen, daß sie dann bei sich sind, wenn sie sich von ihren Medien unterhalten und ‹zerstreuen› lassen. Sie sind also bei sich, wenn sie von sich abgelenkt sind. Schade.


    4. ‹Intakte› Umwelt

    Wie das klingt: ‹Intakte Umwelt›. Wir müssen lächeln. Wo gibt es die denn noch? Das ist doch ‹grüne Romantik›. Und ‹Grün› ist out. Aber völlig. Wir können uns aber – auch wenn wir es ungern tun – ganz gut vorstellen, daß ein Leben in einer ‹intakten› Umwelt Luxus ist. Nur ein Beispiel: Wir gehen an einem Sonnentag über Wiesen und Felder und kommen an einen Bach. Würden Sie, lieber Leser und liebe Leserin, – hier in Deutschland – ganz selbstverständlich daraus trinken? Ihre Hand zu einer kleinen Schale formen, ein wenig Wasser aus dem Bach schöpfen, und – trinken? Nein? In welchem Land würden sie das denn tun? Und: Wäre das nicht ein unermeßlicher Luxus, dies ganz ohne Bedenken tun zu können?


    5. Sicherheit

    Auch abends unbeschadet, unbelästigt und zu einer beliebigen Zeit nach Hause gehen zu dürfen, ist Luxus.


    6. Skepsis

    Wir haben es in den Essays «Meinen: Eine Annäherung» und «Meinen: Rezepte, Regeln, Rituale» schon gesagt: «Skepsis ist Luxus». Nachdenken zu ‹dürfen› über die vielfältigen geistigen Einfachheiten und allfälligen Plausibilitäten, die uns in unseren privaten und beruflichen sozialen Räumen zugemutet werden, nachdenken zu ‹dürfen› über unseren eigenen kleinen Ort im allgemeinen Menschengewimmel, überhaupt nachdenken und skeptisch sein zu ‹dürfen›, Ratschläge bezweifeln zu ‹dürfen›, kommunal Vorgewußtes skeptisch sehen zu ‹dürfen› und deswegen nicht zum ‹Fachidioten› gemacht worden zu sein, ist – Luxus. Ja, Skepsis ist Luxus. Und ich denke, Skepsis ist die schönste und befriedigendste Art, sich an Luxus zu erfreuen.

    Einige dieser hier ‹neu› definierten ‹Luxusgüter› sind ganz offensichtlich nach wie vor ungleich und ungerecht verteilt (Raum, Ruhe, Umwelt, Sicherheit). Einige ‹Luxusgüter› wären jedoch relativ leicht zu ‹erwerben›: Eigenzeit, Ruhe und Skepsis zum Beispiel. Damit sollten wir schon mal anfangen. Allerdings müßten wir zunächst für uns erkennen, daß es sich hier um «elementare Lebensnotwendigkeiten» handelt. Wenn wir das nicht so sehen, wenn wir meinen, wir müßten ständig von Medienlärm umgeben sein, von Termin zu Termin hetzen und unsere Meinungen nach dem zentral Vorgemeinten ausrichten, dann wird es uns nicht gelingen, den unermeßlichen Luxus in dem zu erkennen, das die «elementaren Lebensnotwendigkeiten» uns bieten.

    Ein neues Leben im Luxus also! Und wenn wir endlich eine Wohnung, einen ‹Eigenraum› haben, der nicht gar zu klein ist, der ruhig liegt, und in dem wir friedlich und bei allseits ausgeschalteten Medien unsere neue ‹Eigenzeit› – vielleicht mit einem lieben Mitmenschen – genießen und skeptischen Gedanken nachhängen können, dann, ja dann sollten wir uns eine Flasche Luxus-Champagner gönnen und unsere Skepsis über Bord werfen, ob das denn auch wirklich ein Luxus-Champagner ist, den wir uns da ausgesucht haben. Wie wäre es also zum Beispiel mit einer Flasche «Bollinger»? Wie, lieber Leser und liebe Leserin, Sie meinen, hier, genau hier würde auch ein «Perrier-Jouët» sehr gut passen? Stimmt.



    Erstellt: 15. November 2001 – letzte Überarbeitung: 15. November 2001
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