BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Ein kleiner Beitrag zur Kulturphysiognomik des derzeitigen Fußballspiels»
von Helmut Hansen
Als PDF-Datei laden

Ich bin neulich im Ruhrgebiet mit ein paar Freunden zu einem Fußballspiel der 1. Bundesliga gegangen. Da stand ich nun in einem mit sehr vielen Menschen gut gefüllten Stadion, voller Erwartung auf einen schönen Nachmittag. Als ich das Stadion wieder verließ, war ich allerdings sehr enttäuscht und traurig, ja körperlich angeekelt. Am nächsten Tag wurde ich krank. Mein Ektoderm reagierte auf die vortägliche physische und psychische Dystonie mit schmerzhaften Aberrationen. Was aber war nur geschehen? Und vor allem: «Hey, Mann, das war doch nur ein ganz normales Fußballspiel!» Ja, schon, aber dieses ganz normale ‹Fußballspiel› folgte einer Ästhetik und Ethik, die ich kaum ertragen konnte, und die ich nicht mehr ertragen will. Ich werde im folgenden versuchen, so genau wie möglich zu beschreiben, was ich gesehen habe.

Natürlich waren zwei Mannschaften auf dem Platz, ich nenne sie zur Vereinfachung die ‹Roten› und die ‹Blauen›. Die ‹Roten› waren zu Gast, die ‹Blauen› hatten demnach ein ‹Heimspiel›. Schon nach wenigen Sekunden des Spiels öffnete sich ein Tableau, welches über 90 Minuten Bestand hatte: Die ‹Blauen› versuchten Fußball zu spielen, so gut es ihnen möglich war, die ‹Roten› versuchten, dies zu verhindern. Die ‹Blauen› hatten fast das ganze Spielfeld für sich, sie liefen viel, spielten kurze und lange Pässe, bemühten sich um kreative Überraschungen, kurz, sie betrieben das, was ein neben mir stehender Freund als ‹Schönspielerei› bezeichnete.

Die ‹Roten› agierten nicht, sie reagierten. Das heißt, sie stellten sich ‹kompakt› vor ihrem Tor auf und warteten. Vor dem Torwart der ‹Roten› bewegte sich eine Abwehrkette aus sechs Verteidigern, vor dieser stand noch einmal eine ‹Viererkette›, und davor niemand mehr. Die ‹Roten› bemühten sich nun während des gesamten Spieles darum, die Kreise der ‹schön spielenden› ‹Blauen› unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu stören. Die ‹Roten› verschoben ihre Spieler immer in Richtung des ballführenden Gegenspielers, erreichten bei diesem eine Überzahl, erstickten so den Spielfluß der ‹Blauen› und erkämpften den Ball. Und dann? Ja, was dann? Was macht man mit dem Ball, wenn man sich an der Gestaltung des Spiels nicht beteiligen möchte? Das schauen wir uns an. So befassen sich denn die folgenden Aufzeichnungen zwangsläufig fast ausschließlich mit der Spielweise der ‹Roten›. Im einzelnen gab es nun dies zu sehen:


Spielverzögerungen

Von der ersten Minute an bemühten sich die ‹Roten›, das Spiel aufzuhalten, zu verzögern und Auszeiten aller Art zu konstruieren. Dazu stand ihnen ein ganzes Bündel von ‹taktischen Maßnahmen› zur Verfügung.


Einwurf

Bekamen die ‹Roten› einen Einwurf zugesprochen, führte dies in wirklich allen Fällen dazu, daß zunächst kein Spieler der ‹Roten› gewahr zu werden schien, daß das Spiel mit einem Einwurf fortzusetzen war. Denn alle Spieler der Roten bewegten sich fort von der Stelle, an der der Ball darauf wartete, wieder ins Feld geworfen zu werden. Nach einiger Zeit – meist nach einer Ermahnung durch den Schiedsrichter – bewegte sich dann ein Spieler der ‹Roten› langsam auf den am Spielfeldrand liegenden Ball zu, nahm in auf, hob ihn – einen Einwurf antäuschend – über dem Kopf, um ihn danach doch wieder fallen zu lassen, und damit einem anderen Spieler der ‹Roten› die Möglichkeit zu geben, den Ball einzuwerfen. Der andere Spieler mußte allerdings erst einmal den Ort des Einwurfes erreichen. Und bevor dieser dann den Einwurf ausführte, gab er zunächst einmal in fast allen Fällen mit seinen Armen und Händen allerlei Zeichen und Hinweise an seine ‹roten› Mitspieler, wohin er den Ball bei diesem Einwurf zu werfen gedenke.


Freistoß

Bekamen die ‹Roten› einen Freistoß zugesprochen, zeigte sich in allen Fällen das selbe Bild, wie beim Einwurf: Alle sich in der Nähe befindenden Spieler der ‹Roten› bemühten sich, von der Stelle wegzukommen, von der aus das Spiel mit einem Freistoß fortgesetzt werden sollte. Irgendein anderer Spieler der ‹Roten›, der etwas weiter entfernt war, bewegte sich dann doch auf den Ball zu, warf diesen mehrere Meter nach vorne (in einigen Fällen mußte der Ball nach einer Intervention des Schiedsrichters dann wieder zurückbewegt werden), legte ihn sorgfältig zurecht, um dann den Freistoß doch einem anderen – offensichtlich besser geeigneten – Spieler zu überlassen. Dieser mußte allerdings dann erst einmal den Ort des Freistoßes erreichen und den Ball in allen Fällen auch neu zurechtlegen, um den Freistoß ausführen zu können.

Bekamen die ‹Blauen› einen Freistoß zugesprochen, liefen in allen Fällen Spieler der ‹Roten› sofort an den Ort des Geschehens, nicht nur, um diese Entscheidung mit den Umstehenden zu diskutieren, sondern insbesondere, um eine schnelle Ausführung des Freistoßes zu verhindern. Nur äußerst unwillig ließen sich die ‹Roten› vom Schiedsrichter überzeugen, daß sie bei der Ausführung des Freistoßes durch die ‹Blauen› einen bestimmten Abstand zum Ball einzunehmen hätten. Dieser Unmut wurde in allen Fällen mit heftigen Armbewegungen angezeigt. In vier Fällen kam es zu einer Ermahnung durch den Schiedsrichter, der dabei die Hand auf die Tasche seines Hemdes legte, in der er die ‹gelbe Karte› aufbewahrte.


Ball im Toraus

War der Ball im Toraus der ‹Roten›, wurde deren Torhüter aus dem Off sogleich ein neuer Ball zugeworfen, damit das Spiel hurtig weiter gehe. Dem Torhüter stand nun ein kleines Arsenal an Möglichkeiten zur Verfügung, wie er die erwünschte Verzögerung des Spiels bewerkstelligen konnte. Zum einen übersah er einfach den ihm zugeworfenen neuen Ball und lief gemächlich hinter dem alten Ball bis zur Eckfahne her, um diesen dort aufzunehmen. In zwei Fällen schoß er den ihm zugeworfenen Ball fort, um den weiten Weg zum alten Ball zurücklegen zu können. In mehreren Fällen kümmerte der Torhüter sich weder um den alten noch einen zugeworfenen neuen Ball, sondern verließ sein Tor und eilte auf irgendeinen etwa 20 Meter entfernt stehenden Spieler der ‹Roten› zu, um unter dem Einsatz von heftigen Gesten irgendetwas mit diesem zu besprechen. In diesen Fällen mußte der Schiedsrichter den Torhüter ermahnen, doch das Spiel mit einem Abstoß fortzusetzen.


Abstoß

Der Torhüter der ‹Roten› nahm einen Abstoß sehr genau. Er bemühte sich nicht nur, den Ball sorgfältigst auf eine geeignete Abstoßstelle am Rande des ‹Fünfmeterraumes› zu plazieren, sondern er bohrte auch immer mit den Stollen seiner Schuhe direkt vor dem Ball eine kleine Vertiefung in den Rasen. Anschließend ging der Torhüter dann zu seinem Tor zurück, um mit ausholenden Armgesten seine Mitspieler auf den nun folgenden Abstoß vorzubereiten. Ein einziges Mal ging er zurück zum Ball, da dieser offensichtlich noch nicht hinreichend zufriedenstellend auf dem Rasen lag. Doch da mischte sich der hinzueilende Schiedsrichter ein und ermahnte ihn. Dieses zweimalige Zurechtlegen des Balles hat der Torhüter dann nicht wiederholt.


Vortäuschen einer Verletzung

Wenn die ‹Blauen› gerade in ein ansehnliches Kurzpaßspiel hineingefunden hatten und wieder einmal begannen, den ‹Druck› auf das Tor der ‹Roten› zu erhöhen, fiel plötzlich irgendwo auf dem Spielfeld ein Spieler der ‹Roten› um. Das ergab ein Szenario der Spielunterbrechung, welches sich genau acht Mal wiederholte: Ermuntert von wild auf und ab hüpfenden Spielern und Betreuern vor der Trainerbank der ‹Roten› unterbrachen die ‹Blauen› bereitwillig und fair ihren gerade aufkeimenden Fluß, ja die Eleganz ihres Spiels und schoben den Ball ins ‹Aus›. Dann liefen Betreuer der ‹Roten› auf den Platz, der umgefallene Spieler der ‹Roten› wurde intensiv behandelt und – nach mehreren Aufforderungen des Schiedsrichters – schließlich an den Spielfeldrand geführt. Sobald das Spiel wieder angepfiffen wurde, überwältigte den eben jeweils Umgefallenen das Wunder einer vollständigen spontanen Remission, denn er rannte jeweils flugs zur Mittellinie des Spielfeldes, um so die Aufmerksamkeit des Schiedsrichters auf sich zu lenken und den Platz schnellstens wieder betreten zu dürfen.


Auswechslung

Gegen Ende des Spiels wurden bei den ‹Roten› drei neue Spieler eingewechselt. In allen drei Fällen ergab sich das folgende identische Szenario: Nachdem das Spiel unterbrochen und ein Auswechslungswunsch angezeigt worden war, zeigte es sich, daß der Spieler, der ausgewechselt werden sollte, zum einen nicht nur sehr weit vom Punkt der Auswechslung entfernt war, sondern auch eine ganze Weile mit Gesten deutlich machte, daß er erstaunt sei, ausgewechselt zu werden. Als dies aber dann endlich klar war, verabschiedete er sich zunächst von den in der Nähe stehenden Mitspielern jeweils mit einem Handschlag. Wenn er dann – meist nach einer Ermahnung des Schiedsrichters – sich doch allmählich auf den Spielfeldrand zu bewegte, dann in einer Art Dauerlauf ohne Raumgewinn, einem Dauerlauf, der nicht von der Stelle zu kommen schien. Dieser Lauf wurde in allen drei Fällen etwa auf der Hälfte der Strecke unterbrochen. Der auszuwechselnde Spieler blieb dann jeweils stehen, verschränkte die Hände über dem Kopf, und grüßte zu den Anhängern der ‹Roten› hin. Danach setzte er den ‹Dauerlauf auf der Stelle› fort.


Lamentieren und Diskutieren

Jedesmal, wenn der Schiedsrichter eine Entscheidung ‹gegen› die ‹Roten› fällte (siehe dazu auch oben den Punkt ‹Freistoß›), erzürnte sich der gemaßregelte Spieler sehr, gestikulierte deutlich sein mangelndes Einverständnis, ja hüpfte manchmal in Empörung auf der Stelle hoch und nieder. Derweil bemühten sich andere Spieler der ‹Roten› um ein Gespräch mit dem Schiedsrichter, um die Hintergründe seiner aktuellen Entscheidung näher kennenzulernen und mit ihm die Auswirkungen derselben zu besprechen.


Härte

Jeden Kontakt mit dem Gegner benutzen die ‹Roten›, um ihn mit ganzem ‹Körpereinsatz› festzuhalten, zu umklammern, an seinem Trikot zu zerren, ihn zu sperren, ihn zu stoßen, ihn umzurennen oder umzuwerfen.


Spielerische Passivität

Das für einen wenig befangenen Zuschauer erstaunlichste war, daß die ‹Roten› über ihre umfangreiche Defensivhaltung hinaus in keiner Weise daran interessiert waren, irgendetwas ‹Weitergehendes› zum Spiel beizutragen. Es gabe keinen Gestaltungswillen, keinen erkennbar sinnvollen Spielaufbau, sondern nur Verhinderung, Destruktion. Hatten die ‹Roten› mal wieder einen Ball erkämpft, wurde dieser irgendwo hin geschlagen, wo sich kein Spieler der ‹Roten› aufhielt. Die ‹Blauen› übernahmen den Ball, rannten wieder auf den Abwehrriegel der ‹Roten› zu, der Ball wurde ihnen von diesen wieder ‹abgenommen›, erneut irgendwohin geschlagen, die ‹Blauen› nahmen den Ball entgegen, rannten wieder los etc. etc.


Am Rande der Legalität

Alle oben beschriebenen Handlungen der ‹Roten› verliefen immer haarscharf am Rande der Legalität, jede Aktion war – genau kalkuliert – an der unteren Schwelle einer Verwarnung oder einer Unsportlichkeit. Es gab tatsächlich nur eine einzige ‹gelbe Karte› für die ‹Roten›, als einmal ein Spieler der ‹Blauen› ganz überraschend den Sperr-Riegel doch überwinden konnte und gefoult werden ‹mußte›.


Mythographische Bemerkungen

Orgien der Defensivtaktik gibt es seit Jahrzehnten im modernen italienischen Fußball. Erstaunlicherweise ist diese Ästhetik – und Ethik – des Fußballspiels nun auch in der deutschen Postmoderne angekommen, und dies nicht nur bei Mannschaften, die über einen geringen Etat verfügen oder in der jeweiligen Tabelle weiter unten stehen: «[XXX] stellt sich als renommierte Mannschaft 90 Minuten hinten rein, die verlassen sich auf irgendeinen Fehler von uns, die versuchen ja gar nicht, ein Tor zu schießen.» [1] Uli Hoeneß, zitiert nach einem Bericht von Philipp Selldorf in der Süddeutschen Zeitung Nr. 290, vom 16. Dezember 2002, Seite 33. Die Defensive wird «festgezurrt» [2] Christoph Biermann in der Süddeutschen Zeitung Nr. 289, vom 14./15. Dezember 2002, Seite 41. , die «Null muß stehen» [3] Dies war über viele Jahre der Wahl- und Leitspruch einer Mannschaft im Ruhrgebiet, die damit UEFA-Pokal-Sieger wurde. , Chancen des Gegners werden verhindert. Was macht den «schwarzen Geist des Catenaccio» [4] Christoph Biermann, a.a.O. aus, woraus besteht das angestrebte Prinzip, wie sieht das Denken von Trainer und Spielern aus? «Es besteht in einer Minimierung des Risikos vor dem eigenen Tor bei gleichzeitiger Hoffnung darauf, daß sich vor dem anderen irgendwie schon etwas tun wird» [5] Christoph Biermann, a.a.O. «Entscheidend ist, daß man nicht in Rückstand gerät, daß man hinten gut dicht macht, daß man nichts zuläßt. Wir müssen defensiv denken!» [6] Thomas Linke, zitiert nach einem Bericht von Philipp Selldorf in der Süddeutschen Zeitung Nr. 282, vom 6. Dezember 2002, Seite 31. Erfolg wird gesucht in einer Vermeidung des Mißerfolgs. Wir können auch sagen, daß die Spielweise von der Furcht vor einem Mißerfolg, nicht von der Hoffnung auf einen Erfolg bestimmt wird.

Dazu wird das ‹defensive› Denken umgesetzt in unerbittliche ‹Zweikämpfe›: «Forget the culture of playing football – first we have to win Zweikampf. Zweikampf-Fußball is the real culture of [XXX].» [7] Bixente Lizarazu, zitiert nach einem Bericht von Philipp Selldorf in der Süddeutschen Zeitung Nr. 282, vom 6. Dezember 2002, Seite 31. Und nach dem ‹Zweikampf› ist vor dem ‹Zweikampf›. Ad libitum. Alle kämpfen darum, dem Gegner keine Chance einzuräumen, nicht um sich selbst Chancen zu erarbeiten. So freut sich eine dem Mythos vom Heil der Defensive huldigende Mannschaft naturgemäß vergnügt, stolz und ‹diebisch›, wenn sie dem Gegner das Spiel ‹vermasseln› kann, und nur das: «Die waren ein bißchen ratlos, da waren viele Leute, die ein bißchen frustriert waren.» [8] Marco van Hoogdalem, zitiert nach einem Bericht von Philipp Selldorf in der Süddeutschen Zeitung Nr. 290, vom 16. Dezember 2002, Seite 33

Wir sollten bei dem Wort «diebisch» etwas verweilen. Es trifft mehr zu, als es auf den ersten Blick erscheint. Die gesamte Logik der ‹defensiv› spielenden Mannschaft läßt sich sehr gut mit einem ordinären Taschendiebstahl vergleichen: Man beobachtet seine Opfer eine ganze Weile, um dann bei der ersten sich bietenden günstigen Gelegenheit die Handtasche zu schnappen, wegzurennen und – sich nicht erwischen zu lassen.

Dieser von Cleverneß und Stillosigkeit geprägte zynische Fußball ist ohne ‹persönlichen› Anstand, es gibt auch keine ethischen Verpflichtungen sich selbst, dem Publikum oder gar dem Abstraktum ‹Fußballspiel› gegenüber. Der Zweck – hier also der angestrebte ‹Erfolg› – heiligt die Mittel. Das ist die Ästhetik – und damit Ethik – des derzeitigen Fußballspiels. ‹Kampfschweine› unter sich. Nur: Warum guckt man sich das an?


Nachspiel

Nach dem eingangs beschriebenen Spiel waren die Spieler der Mannschaft der ‹Roten› ganz ausgelassen vor Freude. Sie beglückwünschten sich wechselseitig, gingen zur Kurve ‹ihrer› Fans und Anhänger und wurden dort – ebenfalls ganz überschwenglich – gefeiert, bewundert und mit großem Applaus überschüttet. Am Tag nach dem Spiel konnte ich in einer Zeitung lesen, der Trainer der ‹Roten› habe in der Pressekonferenz nach dem Spiel gesagt, er hätte ein ‹sehr gutes› Spiel seiner Mannschaft gesehen. Und der Manager soll ergänzt haben, er hätte ‹spielerische Fortschritte› bei den ‹Roten› beobachtet.

Ach ja, das hätte ich beinahe ganz vergessen: Die ‹Roten› ‹gewannen› das Spiel. Das war die Hauptsache.



Kommentare:

23. Oktober 2002

Helmut,
leider hast Du recht, spielerische Elemente treten gegenüber der reinen Ergebnisorientierung immer mehr in den Hintergrund. Bestes Beispiel ist der FC Bayern: Zum Ballett werden die auch immer erst, wenn sie ergebnismäßig auf der sicheren Seite stehen. Allerdings denke ich, dass auch eine defensive taktische Ausrichtung Stil haben kann. Den modernen italienischen Cattenaccio und die von Dir beschriebene Kampfschweinrotte deutscher Prägung trennen zum Beispiel Welten. Richtig gespielt ist der Cattenaccio ein, ja, Stil, der einige Spielintelligenz erfordert. Wenn Du Dir den aktuellen AC Mailand anschaust, verstehst Du was ich meine. Das sind schon Riegel, aber die sind so dynamisch ineinander verzahnt, das sie sich heillos verknoten würden, wenn nicht jeder Spieler ein eigenverantwortliches Teilchen in einem harmonischen Ganzen wäre. Und wenn beim AC Mailand irgend etwas funktioniert, dann ist es das Umschalten auf Eigeninitiative genau dann, wenn sich die Möglichkeit bietet. Frag' nach bei Borussia Dortmund. Es ist halt eine andere Ästhetik, in der sich ein ganzes Spiel manchmal in einer Situation verdichten kann, wie in dem einen schönen Spielzug, der ein Spiel entscheidet. Und wenn den Rest der Zeit im Mittelfeld nicht wie in Deutschland gepöbelt, sondern auf hohem sportlichem Niveau um Raum gerungen wird, kann auch ein Spiel mit wenigen Glanzpunkten höchst interessant sein.
Sportliche Grüße,
Bernd

_______


27. Januar 2003

Lieber Helmut,
zu Deinem Artikel nur einige Zitate aus einer Sportzeitung vom 26.1.2003:
«Hinten haben wir in der ersten Halbzeit sehr diszipliniert und konzentriert gestanden. Wenn wir doch so gallig weiter gespielt hätten.»
«D. stand sehr kompakt. Allerdings war auch unsere Defensivleistung sehr gut.»
«Der Gegner hat viel Druck gemacht, aber die Mannschaft hat dem standgehalten.»
«Wir wollten hinten sicher stehen. Das ist uns auch gelungen.»
«S. war sehr gut eingestellt und hat aggressiv gestört.»
«Der Wille war schon da, und hinten standen wir sehr kompakt.»
«Zunächst einmal war es wichtig, keinen Treffer zu kassieren. Wären wir dann als 1:0 Sieger gegangen, hätten alle hinterher gejubelt und von clever und meisterlich gesprochen.»
«Mir wäre es lieber gewesen, wenn wir schwächer gespielt und die drei Punkte geholt hätten.»
Alles klar?
Grüße von
Ingo



Erstellt: 18. Dezember 2002 – letzte Überarbeitung: 27. Januar 2003
Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung.
Alle Rechte vorbehalten.
Bitte senden Sie Ihre Kommentare zu diesem Text per E-Mail
an unseren Sachbearbeiter Dr. Artus P. Feldmann.