BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied von der Arbeiterklasse»
(Wieder hervor geholt, revidiert und aktualisiert 2013)
von Albertine Devilder
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Guy Debord meint irgendwo [1] Dieses ‹Irgendwo› ist selbstverständlich kein ‹Nirgendwo›. Es hat einen Ort: Guy Debord (1996) Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat. Seite&xnbsp;147., seit den Erfahrungen der französischen Revolution sei die Bemühung aller etablierten Mächte immer darauf ausgerichtet gewesen, die Mittel der Aufrechterhaltung der Ordnung in den Straßen zu vermehren. Und dies, meint Debord, gipfelte schließlich in der Abschaffung der Straße selbst. Ein wunderschöner Gedanke, der wunderschön auf die heutige Zeit paßt. Wie schafft es das Kapital heute, dafür zu sorgen, daß sich kein unerfreuliches «revolutionäres Potential» im Sinne von Marx und Engels, ja «das Proletariat selbst» auf den Straßen versammelt? [2] Wir sollten genau hinsehen, wenn sich Leute tatsächlich auf den Straßen versammeln. Sind es ‹klassische› Arbeiter, die gegen ihre entwürdigenden Arbeits- und Lebensbedingungen aufstehen? Eher nicht. Es sind – in den westlichen ‹Demokratien› – meist junge Leute, die sich von ihrem zukünftigen Leben mehr versprochen haben. Das kann sich aber auch noch ändern, falls die Not größer wird. Ach, es war noch nie so einfach, denn dem Proletarier wird der soziale Raum dadurch genommen, daß man ihm den virtuellen sozialen Raum überläßt. Anschließend bekommt er diesen virtuellen sozialen Raum – gefüllt mit Prototypen vom idealen, das heißt immer affirmativ meinenden und handelnden Proleten – wieder zurück. Wie das geht?

Seit einigen Jahren schon können wir in den wichtigsten Medien eine fast perfekt stilisierte Proleten-Ästhetik beobachten: White-Trash, Trash-Kultur also: Ficken, Saufen, Brüllen, Ekeln: Trash Idolatrie. Es gab von Nam Jun Paik in den späten Siebzigern oder frühen Achtzigern eine ganz kleine Videoinstallation, ich glaube, sie hieß ‹TV Buddha›. Es handelte sich hier um eine kleine sitzende Buddhafigur, die in einen kleinen Fernsehapparat schaute, in dem sie sich selber sah. Faszinierend. Dieses Bild ist überaus mächtig und hat mich zum Schreiben dieses kleinen Essays verleitet. Denn was gibt es in den Nullerjahren in den TV-Programmen zu sehen? Na gut, ich sach' jetzt mal: Der Prolet sieht sich selbst! Das ist es! Deswegen nennt man das heute Unterschichtenfernsehen! Also müssen die Medienmacher – im Auftrag des Kapitals – unbedingt alles tun, damit er sich auch immer weiter selber sieht. Wie kann das gehen? Aber hallo: Guckt einfach in das TV-Programm von heute und leset die Überschriften! Alles klar?

Die die TV-Formatmacher einigenden Überzeugungen sind einfach zu beschreiben: Wir dürfen den Zuschauer nicht überfordern, wir müssen alle Schlaubergereien unterlassen, wir müssen mit dem Niveau immer schön auf dem Teppich bleiben, wir dürfen ihn nicht belehren, und wir dürfen immer nur nach Gefühlen fragen und nie nach politischen Zusammenhängen oder Argumenten. Das äußerste zugelassene «Argument» in diesem Kontext ist etwa ein: «Da müssen sich einige Herren da oben wohl mal einige Fragen gefallen lassen!» Aber gerne doch, mein kleiner domestizierter Westentaschenjammerer! (Die Frage wird sogar prompt von oben beantwortet: «Es kann sich hier nur um ein Kommunikationsproblem handeln.» Ein, äh, was? Eben.)

Sehr wichtig ist es, in den TV-Formaten Identifizierungsmöglichkeiten zu bieten. In den ‹Scripted-Reality-Shows› und in etlichen Daily-Soaps «spielen» schon längst keine Schauspieler mehr, sondern schlechte Schauspieler oder Leute «wie Du und Ich». Gute Schauspieler würden irgendwie künstlich wirken. Die können ja was. Nur das Künstliche der Nicht-Schauspieler wirkt auf den Proleten so überzeugend nicht künstlich, also echt. Interessant sind auch die explodierenden Reality-TV-Formate: Es gibt (Obacht: scheinbar) keine Drehbücher mehr, man bringt die Leute einfach zusammen, sperrt sie ein, verbannt sie irgendwo hin, läßt sie einfach zusammensitzen und Sprüche machen. Das reicht. Um das Motto der Kulturepoche der Postmoderne voll zu erfüllen: Es geht um nichts mehr! Und jetzt kommt das Wichtigste!! Was da in den Trash-Formaten gesagt und «gefühlt» wird, könnte jeder sagen und fühlen. Darum geht es. Zentralrede. Das genau schafft das Heimatgefühl für die ‹Werktätigen›, die noch vor dem TV sitzen.

Ich denke nun, daß durch die Übererfüllung der Geschmackspräferenzen des einzelnen Proleten eben derselbe «wie in einem Wasserfall» (Originalton von Dieter Thoma, Ex-RTL-Chef) vor dem TV festgeklebt wird. Er wird entsolidarisiert, vereinzelicht und seiner Klassenzugehörigkeit beraubt (vgl. «Über das Besiegte»). Und das jeden Tag auf's Neue. Das ist die perfekte Kontrolle. Halt' die Leute an den Bildschirmen fest und gib ihnen mit der Fernbedienung und 50 Programmen die Illusion der Kontrolle! Das reicht.

Das «Teile und Herrsche» geht also heute so: Die isolierten Konsummonaden aus der ehemaligen ‹Arbeiterklasse› werden von der telekommunikativen Gemeinschaft des Großen Bruders wieder zusammengefügt. So sind dann zwar alle vereinzelt, aber niemand ist einsam, denn: «Du bist nicht allein». Aus dem «Teile und Herrsche!» der alten Römer ist heute also ein «Isoliere und reintegriere!» geworden. Die in ihren Wohnzellen, in ihrer Wohnhaft lebenden Individuen werden täglich und rund um die Uhr von TV-Spektakelbildern und Höhepunkten der Gemeinheit zusammengehalten. Und in der wenigen Zeit, in der sie nicht vor dem TV sitzen, sprechen sie ganz Bild-gesättigt und Bild-erfüllt darüber, wie das war, als sie davor gesessen haben. Und eben erst durch dieses soziale Zusammenkleistern erreichen die TV-Bilder, die sich der einzelnen Individuen ja längst bemächtigt haben, ihre volle Macht.

Der Sieg der Arbeiterklasse über die Definitionsgewalt öffentlicher Ästhetik, der Sieg der proletarischen Ästhetik also markiert gleichzeitig den Abschied von all dem soziologisch und politisch Aufgeladenen, das die Arbeiterklasse (als sozialem System mit Identifikationseinladung) mal ausgezeichnet hat. Die Abschaffung des Proletariats durch die Proletarisierung der Ästhetik. So könnte es sein. Aber ist der Sieg der proletarischen Ästhetik ein Sieg? I wo! Reingefallen! Das Kapital hat mal wieder gesiegt, indem es dem einzelnen Proleten erlaubt, er selbst zu sein, sich selbst in den Medien zusehen zu dürfen und von allem Wissen verschont zu bleiben, welches seine «Lage» ändern könnte. Hauptsache er kauft, ist Endverbraucher. Was er kauft ist dem Kapital ziemlich egal. Nur, stellt euch vor, er weigere sich, zu kaufen, was er kaufen soll? Unvorstellbar? Stimmt. Sieg der Arbeiterklasse? Gesiegt hat der vereinzelte, vereinzelichte, entsolidarisierte, entpolitisierte Proletarier, das Produkt und Ziel final-kapitalistischer Marktstrategien, gesiegt hat der atomisierte Prolet, dem die Gemeinschaft der Arbeiter egal ist, weil er sie nicht kennt, und kennte er sie, würde sie ihn langweilen. Ist das ein Sieg? Was ist also aus dem wunderschönen «Proletarier aller Länder vereinigt euch!» geworden? Na gut, ich sach' jetzt mal, die Proletarier aller Länder vereinigen sich doch täglich ganz affirmativ vor dem Fernseher. Ist doch gut, oder? Und immer mehr Kulturinsassen gucken sich das Unterschichtenfernsehen gar nicht mehr an. Ob sich das als ‹gut› heraus stellt, bleibt abzuwarten. Wir bleiben dran!



Ins Netz gestellt am 26. Juni 2013
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