BOAG - Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung
«Abschied vom ‹Hauptwiderspruch›»
von Albertine Devilder
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‹Hauptwiderspruch›? Was soll das denn sein?

Der ‹Kapitalismus› hat gesiegt. Endgültig. So lesen wir es tagtäglich in allen Zeitungen, hören es im Radio und sehen es in allen TV-Kanälen. Es gibt praktisch keine Vorstellungen mehr von einer Welt, einer Ordnung, einer Sozialform jenseits eines globalen Kapitalismus [1] Die derzeit so stark kritisierten neuen (alten) Sozialformen in einigen Ländern Südamerikas wollen wir beiseite lassen. Die schauen wir uns in zehn Jahren wieder an, wenn es etwas deutlicher wird, was daraus geworden ist. , jenseits des ‹Marktes›. Einige Theoretiker sprechen gar schon vom ‹Ende der Geschichte› [2] Siehe etwa Francis Fukuyama (1992): Das Ende der Geschichte. Berlin: Kindler. und meinen damit nicht nur, daß unsere bürgerliche Gesellschaft sich endgültig zur höchsten Blüte entfaltet habe, sondern daß nach dieser Blütezeit nichts anderes, also keine andere Gesellschaftsform mehr zu erwarten sei. Das heißt, wir sollen einer endlosen kapitalistischen Blütezeit entgegen sehen.

Und dann komme ich mit diesem albernen Wort ‹Hauptwiderspruch› daher. Klar, lieber Leser, liebe Leserin, mit diesem Begriff können Sie nichts anfangen, deswegen sind sie ja auch - neugierig geworden - auf diese Seite unseres Skepsis-Reservates geraten. ‹Hauptwiderspruch›? Und dann noch ein Abschied von demselben? Hm. Wo sollte es denn Widersprüche geben, und dann noch gar einen ‹Hauptwiderspruch›? Im Kapitalismus? Das kann ja nicht sein. Der erzeugt doch die beste aller Welten. Das schauen wir uns an, der Reihe nach, lege artis.

Fangen wir mit der Bedeutung dieses Begriffs an, welche in einigen wenigen - verschwindenden - Reservaten noch diskurriert wird: «In der Gegenwart der kapitalistischen Gesellschaft stehen sich zwei Klassen feindlich gegenüber: die Bourgeoisie, die die Produktionsmittel besitzt und von der Ausbeutung der Arbeiter lebt, und das Proletariat, das darauf angewiesen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um über den Arbeitslohn sein Leben zu erhalten.» [3] Office-Bibliothek: Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2004. Können Sie diese Definition nachvollziehen, lieber Leser, liebe Leserin? Sie meinen, klar, es gebe noch ein paar Arbeiter, die zwar ‹prekäre Arbeitsverhältnisse› hätten, aber immerhin Arbeitsverhältnisse, aber es gebe doch auch ganz viele Selbständige, die unternehmungslustig seien und Herausforderungen annehmen würden, die würden doch gar nicht ihre Arbeitskraft verkaufen, und die vielen mutigen und leidensfähigen Praktikanten und die ‹digitale Boheme› gebe es doch auch und überhaupt, so einfach könne man das nicht sagen, und übrigens, das seien doch alte Klassenkampfthesen und Klassen gebe es ja auch nicht mehr?! Ok. Sie haben Recht. Genau das sagte ich ja gerade im ersten Absatz dieses Traktätchens: «Es gibt praktisch keine Vorstellungen mehr von einer Welt, einer Ordnung, einer Sozialform jenseits eines globalen Kapitalismus.»

Nach der Definition nun noch etwas zum ‹Hauptwiderspruch›: «Marx und Engels gingen davon aus, dass die Arbeiterschaft im Klassenkampf immer mehr verarmt.» [4] Office-Bibliothek: Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim, 2004. Nun ja, was sollen wir davon halten? Klar, das Einkommen der Arbeitnehmer in Deutschland ist real (unter Berücksichtigung der Geldentwertung) in den letzten 18 Jahren nicht gestiegen. Und die stagnierenden Löhne machen es immer schwieriger, die laufenden Kosten für Kindererziehung, Gesundheitsversorgung, Rente und den täglichen Konsum zu bestreiten. Klar, auch haben viele Arbeitnehmer Lohneinbußen und Arbeitszeitverlängerungen hingenommen, um ihren Arbeitsplatz sicherer zu machen. Leider hatte das des öfteren aber keinen Erfolg, denn die Löhne in China und Vietnam sind zur Zeit doch noch etwas niedriger als hier in Deutschland. Und dann kam es eben doch noch zu einer ‹Verlagerung› der Produktion. Hm. Und bitte sehr und überhaupt: Hat nicht ein sehr hohes Gericht in Deutschland gerade festgestellt, daß man mit einer Hartz-IV-Förderung von etwa 340 Euro im Monat ein menschenwürdiges Dasein gestalten kann? Na also. Von wegen Verarmung!

Halten wir fest, daß der sogenannte ‹Hauptwiderspruch› immer noch der zwischen Lohnarbeit und Kapital ist. In der Theorie von Marx und Engels gibt es aber auch einen Nebenwiderspruch: Die Unterdrückung der Frau in Ehe, Familie und Gesellschaft. Dieser Nebenwiderspruch soll sich direkt aus dem Hauptwiderspruch, den Produktions- und Herrschaftsverhältnissen ergeben. Und der Nebenwiderspruch der Unterdrückung der Frau könne allein durch die Aufhebung des Hauptwiderspruchs aufgehoben werden, sagt die reine Lehre.

Marx und Engels erhofften sich nun durch technischen Fortschritt im Arbeitsprozeß (weg von der körperlich beanspruchenden Arbeit) eine immer weiter zunehmende Teilnahme der Frauen am Arbeitsprozeß und damit letztendlich - über deren wirtschaftliche Unabhängigkeit - das Ende der Unterdrückung der Frau. Tja, diese Hoffnung - die wirtschaftliche Unabhängigkeit - hat sich für viele Frauen erfüllt, für viele andere, die zum ‹abgehängten Prekariat› oder den ‹working poor› gehören, leider nicht.

Es gibt noch einen ‹Nebenwiderspruch›, der allerdings eines Tages zu einem ganz unausweichlichen ‹Hauptwiderspruch› werden könnte, führt doch die kapitalistische Produktionsweise - insbesondere in den neuen Billiglohnländern - zu großen ökologischen Problemen [5] Wir müssen hier nicht nur an die Zerstörung der Regenwälder denken oder den Klimawandel. Das betriebswirtschaftliche Grundprinzip verlangt es, Gewinne zu privatisieren und die Kosten der Produktion (Müll, überflüssige Arbeitnehmer) über den Zaun des Betriebes zu werfen und damit der ‹Allgemeinheit› anzulasten. Das legt dann eben nicht nur einen ökologischen Kollaps unserer Pólis nahe, sondern auch einen sozialen. , die vielleicht sogar einmal existenzbedrohend werden könnten.

Das war's zum Thema Widerspruch. Nur noch ein Gedanke. Es wird heute gelegentlich gesagt, daß marxistische Theorien das Hauptantriebsmotiv des Menschen in seinem Streben nach materiellem Gewinn sähen. Das ist einfach falsch. Das ist eine der Legenden, die im Kapitalismus gerne erzählt werden zur Exkulpation des eigenen Programms und zur Diffamierung der Marxschen Lehre: «Das wirkliche Ziel von Marx ist die Befreiung des Menschen vom Druck der ökonomischen Bedürfnisse, damit er sich […] in seiner vollen Menschlichkeit entfalten kann. Das wichtigste Anliegen von Marx ist also die Emanzipation des Menschen zu einem Individuum, die Überwindung der Entfremdung, die Wiederherstellung seiner Fähigkeit, sich zum Menschen und zur Natur voll in Einklang zu setzen.» [6] Erich Fromm (1982): Das Menschenbild bei Marx. Mit den wichtigsten Teilen der Frühschriften von Karl Marx. Frankfurt/M; Berlin: Ullstein Verlag. Seite 18.


Der Hauptwiderspruch ist tot, es lebe der Hauptwiderspruch!

Der alte ‹Hauptwiderspruch› zwischen Kapital und Lohnarbeit ist tot [7] Und der alte ‹Nebenwiderspruch› wird heute abgehandelt in Verblödungs-Büchern mit Titeln wie «Warum Frauen nicht einparken und Männer nicht zuhören können». Oder so. , er wurde unter dem Jubel einflußreicher Kreise mit dem ‹Zusammenbruch› des ‹real existierenden Sozialismus› zu Grabe getragen. Er wird bald vergessen, nicht mehr der Rede wert sein. Deswegen erfinden wir einen neuen Hauptwiderspruch. Wir definieren diesen aber nicht - wie Marx - ökonomistisch, sondern psychologisch, eigentlich sozio-psychologisch.

Beschreiben wir erst die Kultur, in die unsere Begriffsdefinition hinein hauen soll, bereiten wir erst den Boden für unsere Wirklichkeitsprüfung: Die Ökonomisierung unserer Pólis und unseres Zusammenlebens ist so weit fortgeschritten, daß sich Menschen ein Leben außerhalb kapitalistischer Spielregeln gar nicht mehr vorstellen können. Fast jedes Thema, nein, eigentlich wirklich jeder Bereich unserer Lebensführung wird heute als ökonomistisches Kostenthema diskutiert. Rabattgier, aufgekratztes ‹Preisbewußtsein›, kurz, die Auswüchse einer ‹Tiefpreiskultur› [8] Vgl. dazu das Kapitel 6.2.2 in unserem Arbeitspapier Nr. 14. sind tagtäglich nervige Realität.

Hier nur ein einziges scheußliches Beispiel: Gestern bot ein ‹1-Euro-Shop› in bester Lage einer großen Stadt im Ruhrgebiet einen Rabatt von 50 % ‹auf alles› an. 50 % von einem Euro? Guter Gott, das sind ja nur 50 Cent? Lieber Leser, liebe Leserin, können Sie sich die Menschenmassen vorstellen, die in diesen Laden hineindrängten und hingerissen, entrückt und dennoch kämpferisch sich - in Unmengen von Kisten mit Billigschrott wühlend - dem Rausch eines Tiefpreiserlebnisses hingaben? Hier trifft sich ein Mob, bei dessen Anblick es einer alten Kulturphysiognomin doch mulmig wird.

Ausgangspunkt für unsere Definition ist nun die folgende Beobachtung, die Sie, lieber Leser und liebe Leserin, mit Hilfe der uralten Methode der Introspektion bei sich selbst gerne und leicht nachvollziehen können.

  • Da sehen wir auf der einen Seite ein Jammern über Entlassungen, über zu geringe Löhne für Arbeitnehmer und zu hohe Löhne für Manager, über die Verlagerung von Produktionen in Billiglohnländer, über immer weiter zunehmenden Druck am Arbeitsplatz [9] Der niedrigste Krankenstand aller Zeiten zu Beginn des Jahres 2007 sollte uns zu denken geben. etc. Kurz: Wir sehen ein Jammern über die Kollateralschäden des globalen Kapitalismus.
  • Und auf der anderen Seite sehen wir Kulturinsassen, die fast alle, 999 von 1000, so ökonomistisch gedrillt sind, daß sie, stünden sie auf der anderen Seite, der Seite der Unternehmer und Manager, genau so wie diese handeln würden. Denn Ausbeuten macht Spaß. Kurz: Wir sehen, daß die von Kollateralschäden des globalen Kapitalismus Beschädigten als ‹Arbeitgeber› nichts anders machen und ein ebenso großes Jammern der ‹Arbeitnehmer› erzeugen würden. No mercy!

  • Das ist ein faszinierender und psychologisch überaus interessanter Widerspruch. Nennen wir dies von heute an - Marx wird es verzeihen - den ‹Hauptwiderspruch›.

    Und dies ist noch nicht das ‹Ende der Geschichte›.



    Erstellt: 20. Januar 2007 - letzte Überarbeitung: 24. Januar 2007
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